piwik no script img

Archiv-Artikel

Magisches Denken

SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Warum Islamisten die Kontrolle über den weiblichen Körper so wichtig ist

Sarah Eltantawi

■ promovierte in Islamwissenschaften in Harvard und hat derzeit ein Postdoc-Stipendium an der University Brandeis für Religion, Kultur, Gender und Recht. Sie lebt in Kairo.

Ich bin nicht die einzige liberale Ägypterin, die die Muslimbrüder unterstützt hat. Der Grund dafür war denkbar einfach: Die Muslimbrüder haben die sauberste Wahl Ägyptens demokratisch gewonnen. Auch wenn sie dafür populistische Mittel einsetzten, wie etwa Lebensmittel an die Armen zu verteilen – nichts von ihrem Handeln verletzte nachweislich das ägyptische Wahlrecht. Die Muslimbrüder haben härter als irgendjemand sonst dafür gearbeitet, an die Macht zu kommen, so argumentierte ich, seht euch ihre Verfolgungsgeschichte im 20. Jahrhundert an. Als ich staunend zusehen musste, wie die liberale Elite und Nutznießer des alten Regimes sich weigerten, ihre Rechtmäßigkeit zu akzeptieren, wünschte ich mir ihren Erfolg umso mehr.

„Unkontrollierte Witwen“

Noch immer lehne ich diesen vorauseilenden Hass gegen die „Brüder“ ab. Trotzdem mache ich mir mehr und mehr Sorgen. Die Nation stagniert, im besten Fall, wahrscheinlicher ist, dass sie kurz vor dem freien Fall steht.

Die wirtschaftliche Situation verschlechtert sich jeden Tag. Die Städte überall im Land werden von zunehmender Gewalt erschüttert und von chaotischen Protesten. In den vergangenen Wochen wurden Dutzende von Aktivisten, die gegen die Muslimbrüder protestierten, zusammengeschlagen, Tote lagen am Straßenrand, einige fanden sich in Krankenhäusern wieder.

Genauso schockierend ist die dramatische Zuspitzung von politisch motivierter sexueller Gewalt. Der Fall der Neunzehnjährigen, die von einer Gruppe Männer am helllichten Tag auf dem Tahrirplatz mit Rasierklingen vergewaltigt wurde, ist mitnichten ein Einzelfall.

Und was sagt die Mursi-Regierung? Reda al-Hefnawy von der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei erklärte: „Wie kann der Innenminister damit beauftragt werden, eine Dame zu beschützen, die inmitten einer Gruppe von Männern steht?“ Frauen in der Öffentlichkeit sind eben immer am falschen Platz.

Die Statements der Salafisten waren noch schlimmer. Selbst den eiskalten Muslimbrüdern schwante, dass sie zu weit gingen – immerhin wurde Haftbefehl gegen „Scheich“ Ahmad Mahmud Abdullah erlassen. Er hatte in einer Talkshow gesagt, Frauen auf dem Tahrirplatz „fragten danach“, vergewaltigt zu werden. Ohnehin wären die meisten „Witwen, die von niemandem mehr kontrolliert würden“.

Wie man sagt, sind Muslimbrüder alles, nur nicht ungeduldig. Schritt für Schritt setzten sie ihre autoritäre Agenda um. Frauen aus der Öffentlichkeit auszuschließen ist dabei ein zentraler Punkt. Zusätzlich dürfte das ägyptische Parlament schon bald von den Salafisten dominiert werden. Die Muslimbrüder werden dann noch weiter nach rechts driften.

Alles dreht sich um den Körper

Was mich aber vor allem nervös macht, ist das magische Denken der Muslimbrüder und der Islamisten insgesamt. In einer Welt, in der es nur um menschliche Körper geht, vor allem um den weiblichen, werden die niederdrückenden materiellen Probleme nicht gelöst werden. Bei meinen Forschungen zu den Islamisten im Norden Nigerias fiel mir eine Gemeinsamkeit der Islamisten auf: Sie alle sind irgendwie davon überzeugt, die ethisch gebotene Praxis der „Reinigung der Gesellschaft“ – indem man vor allem den weiblichen Körper und die weibliche Reproduktion kontrolliert – sei eine Voraussetzung zur Bekämpfung von Korruption und Armut. Diese Haltung erklärt wenigstens zum Teil, warum die Muslimbrüder die vergewaltigten Frauen denunzieren. Und denken, der Rest erledige sich dann schon von selbst.

Wir müssen zur Basis zurückkehren. Wir müssen uns darin erinnern, worum es bei den heißen Tagen auf dem Tahrirplatz ging, was so viele Menschen auf die Straße getrieben hat. Tahrir im Januar und Februar 2011 war eine Volksbewegung, klassen- und ideologieübergreifend.

Es war immer falsch, das Wort „revolutionär“ mit „liberal“ gleichzusetzen. So lässt sich die Graswurzelbewegung, die Husni Mubarak gestürzt hat, nicht akkurat beschreiben. Was aber auch zu berücksichtigen ist: Die Basis der Muslimbrüder hat sich zunächst überhaupt nicht für die Revolution interessiert. Lassen Sie uns präzise sein. Was ist mit Revolution gemeint? Dass Ägypter massenhaft aufstanden, auf die Straße gingen und erklärten, dass es jetzt reicht. Anders die Muslimbrüder: In der kritischen Phase waren sie nicht auf der Straße. Sie zogen sich in den privaten Raum zurück und fanden heraus, wie die Revolution am besten für sie als Gruppe zu nutzen wäre. Wer ihre Regentschaft jetzt begreifen will, sollte sich daran erinnern.

Islamisten glauben, dass die unterworfene Frau der erste Schritt im Kampf gegen Korruption und Armut ist

Zurück auf Anfang

Viele Ägyptern protestierten, unter ihnen übrigens einige junge Muslimbrüder, die von Anfang an dabei waren – und ich glaube, das können wir mit Sicherheit sagen: Keiner von denen, die auf dem Tahrir agitiert haben, hatte einen islamischen Staat vor Augen. Warum nicht? Weil die Leute nicht für noch mehr Zwänge auf die Straße gingen, sondern für (mehr) Freiheit.

Für Freiheit gingen auch die Syrer ursprünglich auf die Straße. Um auch das klar zu sagen: Die Präsenz einer geringen Anzahl islamistischer Kämpfer in Syrien ist doch vor allem ein Zeichen für die Verzweiflung, mit der sich die Zivilbevölkerung gegen ein bösartiges und cleveres Regimes verteidigen muss, indessen der Rest der Welt ihre Hilferufe ignoriert. Auch Libyen hat Gaddafi nicht gestürzt, um im Gegenzug dafür Islamismus zu bekommen. Die Wähler haben in ihrer ersten freien Wahl klar säkular gewählt. Und die Mehrheit im Iran, unser großes Urbeispiel für islamistische Verlogenheit, wollte auch keinen islamistischen Staat.

Ich dachte bis vor Kurzem noch, die anhaltenden Proteste in Ägypten seien schlecht für das Land. Aber ich fürchte, dass sie die einzige verfügbare Methode sind, die Angstbarriere unter den normalen Ägyptern ein für alle Mal zu brechen. Leider wird der Heilungsprozess des Landes dadurch auch immer wieder unterbrochen. Doch um islamistischen Autoritarismus zu verhindern, muss man dieses Risiko wohl in Kauf nehmen.