: „Dysfunktionalität des Rausches“
RAUSCHKUNDE Im Band „Das Ende der Enthaltsamkeit“ der Golem-Gründer Alvaro Rodrigo Piña Otey und Anselm Lenz diskutieren illustre trinkfeste Autor_innen die Welt der Spirituosen. Ein Gespräch über Rausch und Denken
■ wurde in einer lauen Sommernacht des Jahres 1979 im Limousin gezeugt, geboren dann in Hamburg (drei Tage verspätet). Dramaturg an diversen Staatstheatern und Festivals. In Hamburg leitete er u.a. die Szene- und Stadtkulturreihe „Explosion“. Eigene Film-, Theater- und Textarbeiten. Gehörte zum Gründungsstamm des Golems, heute genießt er die Freiheit als Golemscher Hausdichter und Privatier.
INTERVIEW NILS SCHUHMACHER
taz: Alvaro Rodrigo Piña Otey und Anselm Lenz, Sie stellen morgen ihren Band „Das Ende der Enthaltsamkeit. Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niederganges“ vor. Noch eine Abhandlung über die Lichtseiten des Alkoholkonsums?
Alvaro Rodrigo Piña Otey: Es geht nicht um eine Verklärung von Alkohol. Das Thema wird ja durchaus kontrovers und widersprüchlich unter Zuhilfenahme der unterschiedlichsten Stilmittel diskutiert. Und dennoch finden wir, dass die zerstörerische Dysfunktionalität des Rausches oft einer der wenigen Orte ist, in dem die Selbstdisziplinierung und Durchökonomisierung unserer beknackten Leben nicht gänzlich greift, in der die protestantisch-neoliberale Optimierungsmaschine im Idealfall für ein paar Minuten oder Stunden die Klappe hält. Und damit meinen wir den Rausch, nicht den Konsum von durchdesignten Lifestyleprodukten in Flaschen.
Anselm Lenz: Es ist ja eher ein Ratgeber für den angewandten Wahnsinn mit 21 wirklich wunderbaren Autorinnen und Autoren, die dankenswerter Weise, teils klug, teils herzhaft bescheuert aus den Erfahrungen gesteigerter Realitätsflucht berichten. Oder was sie dafür halten. Die erhabenen Substanzen feiner Spirituosen bilden da doch im Zusammenspiel nur die gute Grundlage für alles Weitere. Denken Sie nur mal an einen perfekten Whiskey Sour, weiß Gott, ein Drink des Himmels! Dazu eine gute Zigarette, ein Gespräch …
Was erwartet die Lesenden? Eine Anleitung? Eine (Selbst-)Bespiegelung? Anekdoten?
Alvaro Piňa Otey: Im ersten Teil des Buches lassen wir unterschiedlichste Autoren zu Wort kommen. Der Wiener Philosoph Fahim Amir schreibt über Tiere und Alkohol, Thomas Ebermann über Marcuse und was er über die selbst ernannten Hedonisten im Golem dächte, wären sie denn wirklich dort anzutreffen.
Anselm Lenz: Nis-Momme Stockmann feiert ein Fest seiner Wortkunst in einem Dialog mit seiner Freundin. Der findet statt, nachdem er in einer Kneipe namens „Zur blutigen Borste“ auf den Untergang des Abendlandes das Glas erhob – und verprügelt wurde. Danach steigert er sich in einen geradezu metaphysischen Sprechjazz …
Alvaro Piňa Otey: … Heinz Strunk über Trinker versus Abstinenzler, Georg Seeßlen und sein Theaterstück über Bier.
Anselm Lenz: Dirk von Lowtzow singt uns sein Gedicht über die Nüchternheit, Hans Stützers brillantes Bilderrätsel …
Alvaro Piňa Otey: … und vieles andere mehr. Hat man sich dann erst mal durch den ersten Teil durchgekämpft, erwarten den Lesenden ganz handfeste Anleitungen, wie er sich zum Beispiel sein eigenes Saufzimmer einzurichten hat sowie im Golem am Publikum erprobte und für gut befundene Rezepte.
Der Golem: ein Club? Eine Bar? Ein Refugium? Und wenn ja: für wen?
Alvaro Piňa Otey: Keine Ahnung. Eigentlich sind wir als Bar angetreten. Dafür waren wir aber zu groß und zu weit ab vom Schuss. Außerdem wurde uns das schnell viel zu langweilig. Jetzt sind wir wohl etwas dazwischen. Am Freitag und Samstag eher Saufloch, unter der Woche verfolgen wir unseren selbst auferlegten Bildungsauftrag in Form von Lesungen, Filmen etc. pp. Für wen? Für alle, die sich dafür interessieren. Aber ein Refugium, das sind wir nicht. Das können wir ja auch nicht sein. Refugium wovor? Wir sind neben all der lauten Pose ja auch ein wirtschaftliches Unternehmen und müssen mit den Widersprüchen und Widerlichkeiten, die die moderne Sozietät von uns als solches abverlangt, irgendwie jonglieren. Ohne gänzlich zu korrumpieren. Das ist nicht immer leicht.
Anselm Lenz: Und das ist es doch, ein Refugium! Ganz sicher auch für uns, die wir die Nächte am Tresen durchschrubben oder es mal taten. Der Golem ist ein verschachteltes Schmuckkästchen, eine Chimäre, die viele Köpfe hat. Die Bar sollte ein Ort der Freundschaft und der Solidarität werden. Auch wenn das weiß der Teufel kein leichtes Unterfangen ist und es ein kohärentes „Wir“ sicher so nie gab.
„Serious Drinking“, „Das Ende der Enthaltsamkeit“ – sind die Abhandlungen über Alkohol nur Teilmomente eines größeren, ja was eigentlich – distinktiven, bohemistischen Unternehmens?
■ wurde 1980 in Valparaiso / Chile geboren. Diverse abgebrochene Ausbildungen und Studiengänge (unter anderem Geschichte, Literatur), hat viele überflüssige Nächte als Tourmanager und Konzertveranstalter verbracht, bis er 2003 mit einem Freund den Musikclub „Weltbühne“ gründete, der dann aber abgerissen wurde. Seit 2010 betreibt er die Hamburger Bar „Golem“.
Anselm Lenz: Das ist ja eigentlich eine sehr schöne Frage, aber bei aller Lust an der Überheblichkeit ist darauf einfach keine Antwort zu geben, die genau das nicht wäre. Das würde doch den Sinn abmurksen und auch nicht den vielen Beteiligten, Mitarbeitern und Gästen gerecht.
Wird die Veröffentlichung des Buches eingekleidet in ein Besäufnis oder eine theoretische Veranstaltung?
Alvaro Piňa Otey: Besoffene Theorie, oder vielleicht eher: Wir versuchen uns an der Propaganda der Tat. Wobei morgen Abend die Theorie in der Tat etwas zu kurz kommen wird. Mal sehen.
Anselm Lenz: Jörg Nepomuk Petzold wird das Vorwort des Buches in einem Ausdruckstanz vortragen, es wird dann noch ein klein wenig aus dem Buch vorgelesen. Um zwischendurch nicht vom Fleisch zu fallen, wird die größte Champagner-Pyramide der Welt das Paradies auf Erden im Hier und Jetzt ankündigen – die dann unter Absingen der Carmagnole an alle verteilt wird. Daran schließt sich eine kurze Podiumsdiskussion über „Dissidenz und Anpassung im Kulturbetrieb“ an, die vermutlich alles, was wir uns hier zusammenreimen, widerlegen wird. Das wäre zumindest die Hoffnung. Und dann wird getanzt.
■ Fr, 1. 3., 20 Uhr, Golem, Große Elbstraße 14 Anselm Lenz / Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hg.): „Das Ende der Enthaltsamkeit. Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs“, Edition Nautilus, 272 S., 19,90 Euro