: Chile: Neue Prozesse
90-jähriger Exdiktator Pinochet wird wegen Mordes an Linksoppositionellen und Steuerhinterziehung angeklagt
SANTIAGO DE CHILE taz ■ So kleinlaut waren die Pinochet-Fans noch nie. „Sie machen ihn psychisch fertig“, klagte General Luis Cortés Villa, der Direktor der Präsident-Augusto-Pinochet-Stiftung in dessen einstigem Leib- und Magenblatt El Mercurio. „Sie haben es geschafft, die Familie zu terrorisieren.“ Am Telefon geben sich die Stiftungsvertreter zugeknöpft.
Als der greise General und Exdiktator am Freitag 90 Jahre alt wurde, hatten sich Cortés Villas Befürchtungen bestätigt: Am Mittwoch kam die erste Anklage wegen Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung, tags darauf wurde der deswegen verhängte Hausarrest für einige Stunden aufgehoben und dann wegen einer weiteren Anklage erneuert – diesmal auf Grund von Menschenrechtsverletzungen. Pinochet steht ein Prozess wegen dem „Verschwindenlassen“ von linken 119 Regimegegnern 1975 bevor, der „Operation Colombo“. Über regimetreue Zeitungen ließ der Geheimdienst Dina verbreiten, die Ermordeten seien bei internen Grabenkämpfen in Argentinien umgekommen.
Nach den beiden Anklagen sagten Familie und Stiftung jegliche Feierlichkeiten ab. Nur wenige Getreue fanden den Weg in das Nobelviertel La Dehesa in Santiago. Politiker ließen sich nur vereinzelt sehen, dafür an die hundert Pinochetistas, die Fahnen schwenkten, Porträtfotos hoch hielten und auf missliebige Journalisten einschlugen.
Seine ehemaligen Bundesgenossen von der Rechtspartei UDI wollen Pinochet am liebsten diskret entsorgen. „Er muss sich wie jeder Chilene dem Gesetz unterwerfen“, meint Präsidentschaftskandidat Joaquín Lavín. Seine sozialistische Kontrahentin Michelle Bachelet, deren Vater 1974 nach Folterungen durch Pinochets Schergen starb, stellt fest: „Er ist kein relevanter Akteur mehr.“ Mit etwas Genugtuung fügt sie hinzu: „Für viele hat sich seine Persönlichkeit erst jetzt offenbart. Das ist gut für Chile.“
„Pinochet ist eine moralische Ruine ohne jegliche Würde, eine politische Leiche“, sagt die Menschenrechtsanwältin Carmen Hertz. „Doch seine Taten wirken nach, seine Politik der Ausrottung Andersdenkender ist Teil unserer kollektiven Erinnerung.“
Unter der Militärdiktatur wurden 1973 bis 1990 an die 3.200 ChilenInnen ermordet, Zehntausende gefoltert, Hunderttausende gingen ins Exil. Verurteilt wurden erst gut 20 hohe Verantwortliche. Autoritäre Restbestände der Verfassung von 1980 sind noch in Kraft, ebenso das neoliberale Wirtschaftsmodell.
Während das Häuflein Ewiggestriger vor der Pinochet-Villa ausharrt, führen zwei Überlebende unweit davon eine Studentengruppe über das Gelände der berüchtigten Villa Grimaldi. In der ersten fünf Jahren der Diktatur verschwanden hier mindestens 226 Menschen, 4.500 wirkliche oder vermeintliche Regimegegner wurden hier gefoltert. „Wenn unsere Justiz unparteiisch wäre, hätte sie Pinochet längst verurteilt“, sagt der 23-jährige Student Felipe Ahumada. „Vielleicht kommt es jetzt doch noch dazu.“ GERHARD DILGER