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Archiv-Artikel

Ein unbekanntes Stück Weltkino

CHINA Im Schanghai der 30er formierte sich ein transnationales Kino aus Melodramen des traditionellen Theaters und westlichen Stilmitteln

Einige Filme wollten die Pekinger Filmhüter nicht ins Ausland schicken – „aus politischen Gründen“

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

In dem Stummfilm „New Woman“ (1933) von Cai Chusheng gibt es eine Sequenz, die das Einzigartige am chinesischen Kino der 30er Jahre gut zusammenfasst. Die feministische Schriftstellerin Ai Xia (gespielt von der fantastischen „Greta Garbo Chinas“, Ruan Lingyu) wird von einem schmierigen Kavalier zum Tanzen ausgeführt. Cai Chusheng schneidet in dem dialektischen Stil der sowjetischen Regisseure der 20er Jahre von Szenen in der glamourösen Tanzbar zum ärmlichen Alltagsleben des Proletariats in Schanghai. Eine Einstellung bleibt besonders im Kopf hängen: eine Gruppe von zerlumpten Treidlern, die ein Schiff durch einen Fluss ziehen.

Cai Chusheng hat dieses Szene eins zu eins aus Cecil B. De Milles US-Film „Der Wolgaschiffer“ (1926) übernommen. De Mille wiederum hatte diese Sequenz einem Gemälde des russischen Realisten Ilja Repin nachgestellt. Ein Ölschinken aus der Zarenzeit, der über Hollywood nach Schanghai gekommen ist, um sich dort in einer Montage im Stile Eisensteins wiederzufinden – besser kann man den transnationalen Charakter des Kinos vor dem chinesischen Bürgerkriegs wohl kaum beschreiben.

Schanghai war zu dieser Zeit eine der kosmopolitischen Städte der Welt, in der Expats aus der ganzen Welt ihr Glück suchten. Mit ihnen kamen Filme aus aller Welt. Die chinesischen Regisseure dieser Zeit rührten aus diesen Einflüssen und den hysterischen Melodramen des traditionellen chinesischen Theaters einen wilden Stilmix zusammen. Die Filme, die eine Gruppe von kommunistischen Intellektuellen – oft unter Pseudonymen – an einer ebenso strengen wie willkürlichen Zensur vorbeischmuggelten, sind im Westen wenig bekannt. Aber sie gehören genauso zum Weltkino dieser Zeit wie die expressionistischen Stummfilme aus der Weimarer Republik oder der französische poetische Realismus. Eine ausführliche Retrospektive im Arsenal bietet nun Gelegenheit, diese faszinierenden ersten Gestationen eines chinesischen Nationalkinos kennen zu lernen. (Der russische Einfluss überlebt übrigens das ideologische Zerwürfnis zwischen der Sowjetunion und Rotchina. Leider geht die Filmreihe nur bis zur Kulturrevolution. So bekommen wir nicht mehr zu sehen, wie in den „Modelopern“ von Madame Mao – selbst ein ehemaliges Filmstarlet aus Schanghai – Rotarmisten mit Maschinengewehren und Granaten den Kasatschok tanzen.)

„Uns war aufgefallen, dass man in Europa eigentlich nur die Filme von Regisseuren der Fünften Generation wie Chen Kaige und Zhang Yimou oder noch neuere Arbeiten kennt“, sagt Fabian Tietke von der Filmgruppe The Canine Condition, die für das Arsenal eine Reihe mit chinesischen Filmklassikern zusammengestellt hat. „Aber was kam eigentlich davor?“ Die Gruppe machte sich auf eine kostspielige Recherche: Bei Versandhändlern in Asien begannen sie DVDs mit alten chinesischen Filmen zu bestellen. Nachdem sie ihre Favoriten identifiziert hatten, wendeten sie sich an das chinesische Filmarchiv. Einige Filme wollten die Pekinger Filmhüter nicht ins Ausland schicken – „aus politischen Gründen“, wie sie mit dankenswerter Ehrlichkeit zugaben. Aber die 24 Filme, die nun zu sehen sind, geben trotzdem einen tollen ersten Überblick über das chinesische Kino bis 1964.

Besonders gut ist das linke Kino aus der chinesischen Republik in der Filmreihe vertreten. Aus der Zeit nach der chinesischen Revolution haben die Kuratoren die simpel gestrickten Propagandastreifen weggelassen, die die Mehrheit der Produktionen der Staatsstudios nach 1949 ausmachten. So ersparen sie dem Publikum die endlosen Kriegsstreifen voller verräterischer Kuomintang-Schurken und japanischer Imperialisten oder die Porträts von heroischen Modellarbeitern, die die Produktionsnorm übererfüllen.

Stattdessen steht das Genrekino im Vordergrund, dessen Regisseure oft größere Freiheit genossen. In „Visitor on Ice-Mountain“ (1963) geht es zwar auch um den Krieg zwischen chinesischer Armee und Kuomintang, doch der Film erzählt seine Geschichte im Stil eines Thrillers.

■ Ein Lied um Mitternacht – Chinesische Filmgeschichte von 1929 bis 1964: 1.–31. 3. im Arsenal