: Mit Nadel und ohne Kondom
AUS RUILI CLAUDIA BLUME
Erwachsene Kinder kümmern sich um ihre Eltern und Großeltern, so ist es überall in China Tradition. Doch in Luliang, einem Dorf des Jingpo-Volkes in Chinas südwestlicher Provinz Yunnan, können nur wenige alte Menschen ihren Lebensabend sorgenfrei genießen. Die 76-jährige pensionierte Lehrerin Ma Meilan etwa muss noch immer auf dem Feld arbeiten, um ihre Enkel zu ernähren. Ihre drei Söhne hatten alle Heroin gespritzt. Einer ist spurlos verschwunden, der zweite zu schwach zum Arbeiten, der dritte ist vor kurzem gestorben – wie auch die beiden Söhne ihrer Schwester, die ebenfalls Fixer waren.
Nur ein seichter Bach trennt Luliang vom Nachbarland Birma, dem zweitgrößten Heroinproduzenten der Welt. Ende der 80er-Jahren hatten Drogenhändler aus dem Goldenen Dreieck begonnen, neue Handelsrouten zu erschließen: War vorher Thailand der Hauptumschlagplatz, werden Drogen seitdem auch nach Vietnam, Laos und China verkauft. Rund 80 Prozent aller illegalen Drogen in China werden über Yunnan ins Land geschleust – einer Provinz mit Grenzen zu Birma, Laos und Vietnam, die rund 40 Millionen Einwohner und 25 ethnische Minderheiten hat.
Chinas kommunistische Partei hatte nach ihrer Machtübernahme die traditionelle Opiumsucht vieler Minderheiten hier weitgehend ausgerottet. Doch seit der Lockerung der Grenzkontrollen in den 80er-Jahren verkaufen birmesische Drogenhändler überall entlang der langen, porösen Grenze Heroin, nicht selten kommen sie direkt in die Dörfer.
Wie die Söhne von Ma Meilan sind in den letzten Jahren immer mehr Fixer in Luliang schwer erkrankt oder gar gestorben – doch nur wenige Menschen wissen warum. „Als wir fragten, warum Menschen in ihrem Dorf gestorben sind, sagten sie nur: Sie hatten ein Lungenproblem oder haben gehustet. Einige glaubten gar, dass sie von bösen Geistern besessen waren“, sagt Yang Zaipeng vom Yunnan-Provinzradio. „Doch der Arzt, der mit uns zusammengearbeitet hat, war sich sicher, dass sie an Aids gestorben waren. Die Menschen hatten von Aids gehört, wussten aber nicht genau, was es war.“
Dabei ist Aids kein neues Phänomen in Yunnan. Bereits 1989 wurden hier Chinas erste Aidsfälle entdeckt. Seitdem hat sich das Virus rasch verbreitet. Nach offiziellen Angaben lebt fast ein Viertel der rund eine Million HIV-positiven Chinesen in Yunnan. Die überwiegende Mehrheit sind injizierende Drogenabhängige, die infizierte Nadeln geteilt hatten. Und die meisten sind Angehörige einer ethnischen Minderheit.
Eine der am meisten von Aids heimgesuchten Gegenden Chinas ist die Präfektur Dehong in Yunnan, zu der auch Luliang gehört. Die Situation hier ist so dramatisch, dass Beobachter das Überleben einiger ethnischer Minderheiten bedroht sehen. Jahrelang gab es so gut wie keine Präventionsmaßnahmen. „Die Menschen hier haben überhaupt keine Aidsaufklärung bekommen“, sagt der Aidsspezialist Li Hong. „Ab und zu gab es mal einen Bericht im Fernsehen, etwa am Nationalfeiertag – aber es gab nie Informationen in Minderheitensprachen.“
Jahrelang hatte China sein wachsendes Aidsproblem weitgehend ignoriert. Lange Zeit glaubte die Regierung, dass Aids vor allem ein Problem der armen, ländlichen Randgebiete wie Yunnan war, die für die rasante Wirtschaftsentwicklung des Landes wenig interessant waren. Längst jedoch ist Aids nicht mehr nur ein Problem von Drogensüchtigen entlang den westlichen Grenzen, Prostituierten in den Wirtschaftsmetropolen im Süden und der Ostküste oder Blutspendern in Zentralchina: Das Virus breitet sich auch in der restlichen Bevölkerung immer mehr aus.
Nach Ansicht der UN-Organisation UN-Aids hat China eine der am schnellsten wachsenden HIV-Epidemien der Welt. In fünf Jahren könnten in China mindestens zehn Millionen Menschen mit dem Aids-Virus infiziert sein, warnt UN-Aids, wenn die Regierung nicht mehr unternimmt. In den letzten Jahren hat Peking endlich den Kampf gegen Aids verschärft. Ein Weckruf für Chinas Gesundheitswesen war vor allem der Schock, den die Sars-Epidemie vor zwei Jahren ausgelöst hatte.
Auch in Yunnan gibt es seit letztem Jahr eine neue Aidspolitik. In den nächsten fünf Jahren will die Provinz laut der Regierungzeitung China Daily rund 63 Millionen US-Dollar für Aidsprävention und -behandlung ausgeben. Die Präfektur Dehong wurde von Peking zu Chinas wichtigstem Experimentierfeld im Kampf gegen die Epidemie erklärt und erhält zusätzliche Gelder. Mit ausländischen Besuchern sprechen lokale Bürokraten gern und begeistert über die neue Offenheit in Sachen Aids. „Die neuen Bestimmungen sind ein absoluter Durchbruch“, sagt Gong Jingzheng, der Vizegouverneur von Dehong. „Früher wollte niemand über Aids reden, es wurde nur wenig Aufklärung betrieben. Seit letztem Jahr wird Aids auf allen Regierungsebenen diskutiert.“
Zwei Stunden Busfahrt vom Jingpo-Dorf Luliang entfernt liegt die boomende Grenzstadt Ruili, die mit ihren palmengesäumten Boulevards und goldenen Pagoden in birmesischem Stil an einen subtropischen Urlaubsort erinnert. In China ist Ruili berühmt für seinen Jadehandel – und berüchtigt als Umschlagplatz für Heroin und für seine zahlreichen Bordelle. Hier wurden Chinas erste Aidsfälle entdeckt. Seit letztem Jahr liegen in allen Hotelzimmern der Stadt Kondome und Informationen über Aids auf dem Nachttisch. Auf den Straßen gibt es Kondomautomaten. Aber es gibt noch eine Reihe anderer neuer Maßnahmen in Ruili und der ganzen Präfektur Dehong, die zum Teil eine radikale Kehrtwendung von früherer Aidspolitik bedeuten.
„Wir wollen bald Versuche mit Methadon- und Nadeltausch-Programmen starten“, erzählt Duan Qixiang, Direktor einer lokalen Gesundheitsbehörde. „Außerdem wollen wir mehr Aufklärungsarbeit machen – etwa in Schulen oder in Zusammenarbeit mit den Medien. Weiter werden wir kostenlos Aidstests anbieten, Aidspatienten kostenlos behandeln und die Schulgebühren von Aidswaisen bezahlen.“
Auch direkte Aufklärung wird nun groß geschrieben. Seit Anfang des Jahres schickt etwa die Verwaltung des Bezirks Longchuan, zu dem auch Luliang gehört, in alle Dörfer Verwaltungsangestellte, die mit den Menschen in zum Teil abgelegenen Minderheitendörfern über Aids sprechen sollen. Etwa 1.000 Regierungsangestellte in der Präfektur Dehong werden bis 2007 an solchen mehrtägigen Einsätzen teilnehmen. Doch die unverhofft und meist unfreiwillig zu Gesundheitsexperten ernannten Bürokraten haben selbst nur wenige Tage Ausbildung in Sachen Aids hinter sich und nur wenig Informationsmaterialien zur Verfügung, die noch dazu selten in Minderheitensprachen verfasst sind.
Aussichtsreicher schien ein Unesco-Projekt, bei dem in Zusammenarbeit mit Yunnans Provinzradio 2004 eine Radio-Seifenoper zur Aidsprävention in der Jingpo-Sprache produziert worden war. Der Inhalt der Seifenoper beruhte auf Geschichten die Radioleute, Mediziner und Sozialwissenschaftler zuvor bei den Jingpo gesammelt hatten. Doch die kulturell und sprachlich sensible Produktion hatte wenig Erfolg: Die Unesco hatte nicht erkannt, dass nur wenige Menschen hier Radio hören und dass die Empfangsqualität in der Gegend zu schlecht ist. Die Seifenoper wird nun auf Kassetten kopiert und an Organisationen, Schulen und Dörfer verteilt.
Trotz vieler positiver Initiativen bleiben einige Maßnahmen zur Aidsbekämpfung in Yunnan zweifelhaft. Dazu zählt der Plan der Regierung, künftig noch mehr Drogensüchtige als zuvor in Entzugsanstalten zwangseinzuweisen, obwohl die Rückfallquote mehr als 90 Prozent beträgt. Die Süchtigen oder ihre Familien müssen den Entzug selbst bezahlen. Abhängige, die von der Polizei auf der Straße aufgegriffen werden, können bis zu sechs Monate in Entzugsanstalten und bis zu zwei Jahre zur Umerziehung in Arbeitslager geschickt werden.
Lokale Gesundheitsexperten erkennen das Problem: „Entzugsanstalten sind nur eine temporäre Lösung. Wir müssen die Menschen aufklären, nur so können sie sich ändern“, sagt Duan Qixiang. UN-Aids kritisiert zudem, dass Angestellte im Hotel- und Unterhaltungsgewerbe in Yunnan nun gezwungen werden Aidstests zu machen, und bei einem positiven Testergebnis ihre Stelle verlieren können.
Von den Experimenten zur Aidsbekämpfung in Yunnan könnte abhängen, ob Minderheiten wie die Jingpo den Kampf gegen Aids und Drogen überhaupt überleben können.