: Pragmatische Flüchtlinge
EXIL Eine halbe Million Menschen floh ab 1933 vor den Nazis. Schicksale von 16 Exilanten, weit weniger berühmt als die Familie Mann, zeigt eine Ausstellung im Lübecker Buddenbrookhaus
Die Mitglieder der Schriftsteller-Familie Mann aus Lübeck wurden zu Weltbürgern, weil sie vor den Nationalsozialisten bis nach Amerika flüchten mussten. Doch sie sind kein Einzelfall und deshalb hat das Lübecker Buddenbrookhaus ihr Schicksal zum Ausgangspunkt seiner Ausstellungen gemacht: Immer wieder fokussieren sie das Thema Exil.
Die aktuelle Schau erinnert mithilfe des Exilarchivs der Deutschen Nationalbibliothek an die halbe Million Menschen, die Geld, Weitsicht, Beziehungen und Mut genug hatten, Deutschland zwischen 1933 und 1945 zu verlassen. Die Präsentation trägt den Namen „Fremd bin ich den Menschen dort“. Ein Poem der Frankfurterin Emma Kann war mit diesen Worten überschrieben und es beschrieb ihre eigene Erfahrung: Die Jüdin Kann musste nach der Machtübernahme der Nazis ihre Banklehre abbrechen und fand nach einer Odyssee durch England, Belgien, Frankreich, Kuba und die USA erst 1981 wieder nach Deutschland zurück. „Doch zu Hause ist meine Heimat nicht mehr“ notierte sie schon 1933 im englischen Exil.
Heimweh und Abkehr, die „split-loyality“ zwischen altem und neuem Leben, das Verhaftetbleiben und Neu-Verwurzeln: Dieses Dazwischen ist zentrales Motiv der Ausstellung, die insgesamt 16 Exilanten porträtiert. Dabei sei es bei den meisten „ein zunächst als vorübergehend begriffenes Verlassen der Heimat“ gewesen, sagt Kuratorin Sylvia Asmus.
Dabei stehen nicht die Stars der Exilliteraten im Mittelpunkt der Schau, sondern ein Berliner Kürschner, eine Schlagerkomponistin aus Wien, ein Altphilologe, eine Strafverteidigerin. Sie alle einen Erfahrungen von Verleumdung, Ausgrenzung, Verfolgung, Verlust von Beruf, sozialem Status, Bürgerrechten, schließlich Flucht, Leben als Überleben.
Die Wege in die Fremde sind sehr individuell. Ein Finanzwissenschaftler fand eine Stelle in Istanbul, der 16-jährige Paul Ernst Loewy, der mithilfe einer jüdischen Jugendorganisation nach Palästina floh, widmete sich zunächst der Landwirtschaft im Kibbuz. Viele gingen nach London, wo aber ab Mai 1940 auch deutsche Exilanten interniert oder gleich nach Australien oder Kanada deportiert wurden.
Wer den finsteren, bedrückend niedrigen Ausstellungsraum betritt, steht beengt zwischen dicht an dicht gestellten, wackeligen Schautischen. Dass die 16 Biografie-Tische unstrukturiert in den Raum gequetscht wurden, macht aber durchaus Sinn. Denn so können alle Schicksale gleichwertig nebeneinander stehen, und es gibt keinen Rundgang. Jeder Besucher muss seinen Weg finden.
Gezeigt werden je ein Porträtbild und ein Zitat. Darunter liegen in einer Vitrine Fotos, Postkarten, Zeitungen, Ausweise, Zeugnisse. Notenblätter liegen bei der Pianistin, Gedichtzeilen beim Dichter. Dazu kommen persönliche Andenken: Koffer, Lagergeld, Schmuckkästchen mit Eintritts- und Fahrkarten sowie ein genähtes Tagebuch.
Betont schlicht gibt sich die Schau – wohl als Gegenentwurf zum Auswandererhaus Bremerhaven, wo man mit der Kopplung realer Biografien und pompöser Inszenierungen der Emigrationsstationen auf Emotionalisierung setzt.
In Lübeck dagegen überraschen Einsichten jenseits der Klischees. Einige der Geflohenen bezeichnen das Exil zum Beispiel als segensreich für ihre berufliche Karriere. Die nach England geflüchtete Irma Lange betont, in ihrem Internierungslager auf der Isle of Man „gut aufgehoben zu sein“. Wie sie denken alle Exilierten, die die Lübecker Schau vorstellt: Sie suchen das Beste aus der Situation zu machen. Selbstmitleid findet sich nie. JENS FISCHER
bis 26. 5., Lübeck, Buddenbrookhaus