ARCHIVAUFLÖSUNG: Fundus für kritische Juristen
An der Uni Bremen verschwinden auch die letzten Projekte, die dem reform-orientierten Gründergeist entsprachen. Ende 2011 geht das Strafvollzugsarchiv
Blaue und rote Ordner stehen in den Metallregalen. "Celle 1977 bis 1981, I-III" oder "Statistik Freigang, Ausgang, Todesfälle" steht darauf. Im Strafvollzugsarchiv an der Uni Bremen lagern Urteile, Fachartikel, Gefängniszeitschriften und Gesetzeskommentare. Einige Regale sind schon leer. Zum Ende diesen Jahres wird das Archiv aufgelöst. Im August hat die juristische Bibliothek Bedarf für den Raum angemeldet.
Lange war der Weg der Uni Bremen und des Archivs miteinander verknüpft. 1976 verabschiedete der Bundestag das erste Strafvollzugsgesetz. "Vorher war das ein rechtsfreier Raum", sagt Johannes Feest, der Leiter des Archivs. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2005 steht der Jura-Prof noch fast täglich zwischen den Regalen. Er studierte Rechtswissenschaft in Wien, München, Tübingen und Berkeley in Kalifornien. 1974 berief ihn die Uni Bremen zum Professor für Strafverfolgung, Strafrecht und Strafvollzug. 1977 begann er, an einem Gesetzeskommentar zu arbeiten, der stark soziologisch ausgerichtet war. Das Archiv entstand. Im Geiste der Reformuniversität sollte auch die Rechtswissenschaft in Bremen auf Erkenntnisse der Gesellschaftswissenschaften zurückgreifen. Feests Blickwinkel lag immer auch auf der Rechtswirklichkeit, darauf, wie es in den Knästen aussah. Aus dem Archiv heraus begannen Jura-StudentInnen ehrenamtlich die erste Rechtsberatung für Gefangene direkt im Knast anzubieten. Bis heute ist das eine Besonderheit.
An dem Tisch neben den Archivregalen sitzt eine Studentin über einem handgeschriebenen Brief. Einige Stellen sind gelb markiert. Die schriftliche Rechtsberatung ist eins der anderen großen Projekte. In dem Brief fragt ein drogenabhängiger Gefangener, wie er beantragen kann, außerhalb des Knasts eine Therapie zu machen. Aus ganz Deutschland kommen solche Briefe, fünf bis zehn pro Woche. Früher waren es mehr, aber in den Anstalten hat sich bereits herumgesprochen, dass in Bremen die Beratung aufhört, sagt Feest.
Gekostet hat das Archiv die Uni kaum etwas. Büromaterial, Telefonanschluss und einen Raum stellte sie bereit. Die Bücher hat Johannes Feest meist selbst gekauft. Die StudentInnen arbeiten ehrenamtlich. Mittlerweile steht auch Feests Alternativ-Kommentar zum Strafvollzugsgesetz auf den Richtertischen, zumindest bei den Landgerichten, sagt er. "Die Gefangenen zitieren ihn, deshalb müssen auch die Richter auf ihn zurückgreifen." Im November erscheint die 6. Auflage. Für die nächsten zwei Jahre wird Feest mit dem Kommentar ein Monopol haben, die anderen Herausgeber orientieren sich neu. Denn auf Grund der Föderalismusreform wird das Strafvollzugsgesetz durch Landesgesetze abgelöst.
Auch deshalb wird das Archiv aufgelöst. Im Fachbereich findet sich kein Kollege, der Feests Arbeit übernehmen möchte. Die schriftliche Rechtsberatung wird von Dortmund aus weitergeführt. Die Anwältin Christine Graebsch trat dort zum Wintersemester eine Jura-Professur an der Fachhochschule an. Lange hat sie mit Johannes Feest zusammengearbeitet. Auch die Bücher nimmt sie zu sich. Die Korrespondenzen mit den Gefangenen aus über 30 Jahren, etwa 6.000 Briefe, verwahrt das Archiv der Uni Bremen. "Eigentlich bleibt nichts auf der Strecke. Außer der Uni Bremen", so Feest. Sich auch für marginale Bereiche zu interessieren, die in der juristischen Ausbildung traditionell keine Rolle spielen, da sei Bremen ganz vorne gewesen. "Aber diese Art von Exzellenz ist nicht mehr gefragt. Die Schrumpfpolitik der Universität und des Fachbereichs führen dazu, dass das Thema Strafvollzug wegfällt."
Dabei gewinnt das Strafvollzugsrecht in der Praxis zunehmend an Bedeutung. "Die Sanktionen sind flexibler geworden", so Feest. Früher bekam einer fünf Jahre und musste die Strafe komplett absitzen. Mit dem Urteil endete die Arbeit des Anwalts. Heute kann nach zwei Dritteln der Strafe entlassen oder nachträglich eine Sicherungsverwahrung verhängt werden. "Das betrifft Rechtsfragen des Strafvollzugs, damit kennen sich viele Anwälte nicht aus." Rat holen sie sich dann bei Johannes Feest. "Wie die Uni Bremen waren wir am Anfang die Außenseiter, inzwischen werden wir ernst genommen."
Eine Studentin kommt ins Archiv, sie macht die Rechtsberatung in der Psychiatrie. Ein Gefangener soll abgeschoben werden und fürchtet die türkische Psychiatrie. Feest bespricht sich mit ihr, sucht am Computer. Dort sind alle 21.000 Titel verzeichnet. Das sei genau das, wofür das Archiv da sei, so Feest: "Um für die Praxis einen Fundus zu bieten."
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