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Archiv-Artikel

Berliner Short Cuts

ALLTAGSABENTEUER Soziale Weitwinkelaufnahme mit einer Kröte, die der Leser schlucken muss: Helmut Kraussers Roman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“

Die Travestie des Eingangsverses der Nationalhymne, mit der Helmut Krausser seinen neuen Roman betitelt, „Einsamkeit und Sex und Mitleid“, gibt bereits einen ersten Hinweis darauf, um was es ihm hier vordergründig geht: um ein Panorama der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft nämlich, nicht zuletzt ihres Sexualverhaltens, und zwar quer durch so ziemlich alle Schichten und Milieus – jedenfalls alle, die man in Berlin antreffen kann. Die Einheit des Ortes ist obligatorisch, das gehört gewissermaßen zu den Funktionsbedingungen der offenen Romanstruktur, die seit Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ und John Dos Passos’ „Manhattan Transfer“ immer mal wieder von Romanciers instrumentalisiert wird, wenn sie eine soziale Weitwinkelaufnahme im Kalkül haben.

Helmut Krausser beherrscht diese narrative Methode mehr als souverän, er spielt mit ihr. Man spürt beim Lesen, dass es ihm Spaß gemacht hat, die verschlungenen Wege seiner Stellvertreterfiguren, des muslimischen Migranten, der Proll-Punks, der gescheiterten Tänzerin, des arbeitslosen Akademikers, der übergewichtigen Bedienung, der heimlich perversen Hausfrau, des Callboys, des Businesstypen etc., mit ihren gar nicht so alltäglichen Alltagsabenteuern zu einem Roman-Ganzen zu verweben. Das macht er ebenso locker wie gekonnt. Nur die Vollständigkeit, mit der er hier die geläufigen Soziotope durch jeweils einen Protagonisten repräsentieren lässt, wirkt ein bisschen beflissen – schließlich hat er keinen Intendanten oder Produzenten im Nacken, der auf eine emotionale Anbindung möglichst aller Zuschauerschichten durch mindestens eine Identifikationsfigur besteht.

Außerdem merkt man Kraussers profanen Helden etwas zu deutlich an, dass sie Exempel sind. Als ob sich seine poetische Energie in der ausgefuchsten Plot-Architektur erschöpft hätte, gelingt es ihm nur selten einmal, sie aus ihrem Typenschema zu erlösen und ihnen individuelles Leben einzuhauchen. Das liegt vor allem daran, dass er sich in einigen Milieus anscheinend nicht gut genug auskennt. Seine Rollenprosa klingt oft nicht recht überzeugend. Das fällt umso stärker ins Gewicht, als er seine Protagonisten in ausführlichen Dialogen profiliert und den Leser noch dazu häufig über den Kunstgriff der erlebten Rede in ihre Köpfe blicken lässt. Bei ihm spricht ein Karstadt-Fillialleiter wie ein Intellektueller („Oder meinst du Respekt im Wortsinn, als müsse man noch mal Rückschau halten, auf das, was gewesen ist?“) und die Punks artikulieren sich nicht wie echte Menschen, sondern wie Statisten im „Tatort“: „Ich fänd’s gut, Vater zu werden. Wenn’s behindert ist, kann man’s heutzutage in die Kinderklappe geben, auf Nimmerwiedersehn. Ansonsten kann man es aufziehen und triezen und teachen. Hey, ich bin total verliebt in dich!“

Punks aus dem „Tatort“

Mit einem Wort, „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ hat ein akutes Glaubwürdigkeitsproblem. Der entworfene Imaginationsraum emanzipiert sich nicht wirklich, und das führt dann dazu, dass man während der Lektüre nie das Gefühl verliert, nur einen Roman in der Hand zu haben, nur einer – wenn auch dramaturgisch virtuosen – Fiktion aufzusitzen.

Oder ist das am Ende Kraussers Anspruch? Dass Realität sowieso nicht mehr einfach und unmittelbar zugänglich sei, sondern immer schon in vielfältigen Mischungsverhältnissen mit ihrem medialen Abbild? Vielleicht hätte er sogar recht damit, vielleicht sprechen ja tatsächlich auch die realen Punks schon ein bisschen wie ihre virtuellen Abziehbilder aus dem „Tatort“.

Aber auch diese Lesart ändert nichts daran, dass der Roman merkwürdig unfertig anmutet, als sei die Buchform gar nicht sein adäquater Aggregatzustand, als warte dieser Stoff nur auf seine eigentliche Bestimmung, die Verfilmung. Eine Berliner „Short Cuts“-Adaption – da müsste doch was zu machen sein. FRANK SCHÄFER

Helmut Krausser: „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. Dumont, Köln 2009, 223 S., 19,95 Euro