piwik no script img

Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen Wegen Schmalzstullen verdrückt sich niemand zum Inder

Eine Spur zu brüsk hatte der Intendant im Überschwang den Nacken der glücklichen Hauptdarstellerin im Schlussapplaus runtergedrückt, damit sie sich verbeuge. Zuvor hatte er Carmen-Maja Antoni, die am Schiffbauerdamm immerhin die Nachfolge Helene Weigels als „Mutter Courage“ antritt, nach vorn geschubst wie ein Schulmädchen. Doch nichts wird Claus Peymann nachgetragen, schließlich restauriert der Chef persönlich das Brecht-Bild. Wohlwollende Inszenierung, aber es mag auch eine Geste an die Lordsiegelbewahrer sein: „Hier habt ihr euren Brecht.“

Später ständige Rochade zwischen Kantine und Foyer. Peymann aber lehnt lässig plaudernd am Imbissstand, anstatt abgeschirmt unter den Seinen zu bleiben. Das Ensemble raucht in der Kantine, rotwangige Assistentinnen stehen neben Schauspielern und trinken Bier aus Humpen, und mit dem Bühnenkoch geht es durch geheime Gänge ins Foyer zurück, Jacken holen.

Kalt war es auch, als Friedrich Look das Wochenende eröffnete mit Werken von Robert Lippok. Die Wohnmaschine hat zwar noch nie eine Arbeit des „To Rococo Rot“-Musikers verkauft, doch ist man seit Anbeginn der Wohnmaschinenzeitrechnung einander verbunden. Es gibt Schmalzstullen und Wodka, und im Smalltalk findet der Palast der Republik keine Anhänger. Iepe aus Rotterdam ist Konzeptkünstler und Weltmeister im Schachboxen, doch Wodka will er nicht, aber mit der Japanerin im grauschwarzen Kostüm palavern.

Ein Architekt für Kücheneinrichtungen lobt die schlichte Schönheit von Lippoks klingendem Holzkasten im Vorraum, ein Auftrag des deutsch-polnischen Radio Kopernikus. Entgegen den Erwartungen des Künstlers stellt niemand Bierflaschen darauf ab. Es ist schon vorgekommen, dass sich der Gastgeber während der Show zum Inder verdrückt hat, doch diesmal steht er am Tresen und bedient geduldig die Anfragen seiner Gäste.

Durch verlassene Gassen und über die Tucholskybrücke geht es zum Palast der Republik. In der Fraktale-Lounge ist beim Grime-Abend niemand älter als 27, auch die Veranstalter nicht. Die Frauen tragen Seitenscheitel, Jeans und konische Absätze und wollen noch nicht tanzen, sondern sich o-beinig im Vorprogramm wiegen. Später trinken sie Weißwein aus Flaschen, auch wenn es sehr kalt ist, und lassen sich lange vom DJ bitten, versinken lieber im Treiben der pazifischen Kaiserfische auf Video.

Noch pulsiert es loungig, und ein Berliner mit Beduinenhut macht auf Schamane und singt, doch niemand fällt in Ohnmacht. Dietrich hat die Videos zusammengestellt und ist Tutor für Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Er hat ein sehr freundliches Gesicht wie alle hier und sagt: „Früher hat man das studiert, wenn man in die Werbung wollte. Heute wollen zwei Drittel zu Non-Profit-Organisationen oder in die Musik.“ Er bleibt auch freundlich, als er sagt, dass der Chef von McKinsey Berlin GWKler ist und die Sängerin von „Wir sind Helden“ auch.

Schließlich verstummt der Schamane, und ein DJ im Mantel fegt die Boxen frei mit Grime. Grummelnde Bassflächen massieren die Bäuche, Beckenrhythmen provozieren zum Tanz, Videos zeigen Trickfilm-Orchideen beim Sex, und der frühe Pete Townshend vergeht sich in Farbe an Gitarren.

Draußen wendet eine einsame Wollmütze im Flutlicht die Würstchen vor dem Riesenrad auf dem Schlossplatz, drinnen erwacht, als die Sickgirls auflegen, die Lounge im Brutalismusbau unter der alten Volkskammer zum Leben – der eisigen Kälte zum Trotz. Im 18. Jahrhundert heizten stehende Regimenter die Barockoper ein, bevor das Publikum erschien.

FERNANDO OFFERMANN