Weddinger Kiezkultur: Ausgeplaudert

Das Erzählcafé ist kulturelle Institution und soziale Begegnungsstätte in einem. Nun steht es vor dem Aus.

Lesen bildet. Bild: dpa

Ein trüber Samstagnachmittag Ende November. Im Bürgersaal in der Malplaquetstraße stehen Kaffee und Kuchen auf einer langen Tafel bereit, es riecht adventlich nach Kerzenwachs und Mandarinen. Etwa 50 Leute sind zu Regina Scheers Erzählcafé gekommen, die kleinen Tische in dem Saal mit den hohen Flügelfenstern voll besetzt. Als Scheer den Gast ihres 58. Erzählcafés begrüßt, verstummt das Tassenklappern: Knapp zwei Stunden wird Marina Schubarth, ehemalige Tänzerin am Berliner Theater des Westens, erzählen. Über ihre ukrainischen Großeltern, die Partisanen im Zweiten Weltkrieg waren. Über ihre Arbeit als Dolmetscherin für Schweizer Ärzte in Tschernobyl und über ihren Einsatz für ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter. Schubarth hat viel gesehen und kann erzählen, im Saal herrscht konzentrierte Stille. Am Ende wird ein älterer Herr aufstehen und sich bedanken "für das, was ich erfahren durfte".

Seit 1987 gibt es das Erzählcafé im Wedding, seit drei Jahren wird es von der Berliner Autorin und Journalistin Regina Scheer geleitet. Kommenden Samstag wird die vorerst letzte von mehr als 400 Veranstaltungen stattfinden: Das Erzählcafé wurde vom Quartiersmanagement Pankstraße und dem Verein Förderband e. V. Berlin unterstützt. Nun läuft die Förderung mit Geldern aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) aus. Privat finanzieren kann Scheer die Erzählcafés nicht: "Was am Ende der Veranstaltung in der freiwilligen Spendendose ist, deckt vielleicht die Kosten für Kaffee, Kuchen und Blumen." Nun will sie das Gespräch mit freien Trägern in der Kulturarbeit suchen - aber konkret ist noch nichts.

Es mangelt an Angeboten

Für den ohnehin mit Kulturveranstaltungen nicht gerade reich gesegneten Wedding ist das Aus für das Erzählcafé ein herber Verlust. Zwar zieht Mittes Problembezirk dank noch bezahlbarer Mieten allerhand Künstler auf der Suche nach dem ominösen rauen Berlin-Gefühl an - und die Szene an kreativen Off-Spaces und Projekträumen floriert. Doch es mangelt an kulturellen Angeboten, die einen Querschnitt der Bevölkerungsstruktur im Kiez ansprechen: Neben der wachsenden Künstler- und Studentenszene sind das eben auch die Alteingesessenen und Alten, die Migranten, die sozial Schwachen. Zwar gibt es Institutionen wie die Nachbarschaftsetage Osloer Straße, die den Schwerpunkt auf die integrative Kulturarbeit legt und wo beim regelmäßigen internationalen Frauenfrühstück oder bei interkulturellen Theaterworkshops "das Publikum die Bevölkerungsstruktur des Kiezes widerspiegelt", wie Vorstandsmitglied Ruth Ditschkowski sagt.

Doch Veranstaltungen wie Scheers Erzählcafé, die nicht vordergründig interkulturell oder integrativ arbeiten und trotzdem ein gemischtes Publikum anziehen, sind selten. Vor allem viele ältere Leute kämen, sagt Scheer, je nach Thema und Gast auch mal mehr junge Leute und Studenten. In einem Erzählcafé erzählte ein junger Palästinenser, wie es ist, ohne Heimat groß zu werden, ein anderes Mal lud Scheer einen türkischen Jungen aus dem Kiez ein. "Da hatte ich zuvor ein Jugendtheaterprojekt begleitet. Da waren so viele spannende Biografien von Kindern, die zwischen verschiedenen Kulturen groß werden". Beim Erzählcafé, sagt Scheer, gehe es nämlich genau darum, "um den Moment der Begegnung. Sich damit auseinanderzusetzen, dass es ganz andere Lebenswirklichkeiten und Perspektiven gibt als die eigene."

Begegnung der dritten Art

Unterschiedliche Lebenswelten begegnen sich im Erzählcafé vor allem im Publikum selbst. Marina Schubarth erzählt gerade, wie sie in Ungarn zur Tänzerin ausgebildet wurde, da stolpert ein abgerissener Mann in Radlerhosen mit Spitzenkleid darüber zur Tür hinein. Großzügig bedient er sich vom Kuchenbüfett, es kostet ihn nichts. Regina Scheer stört das nicht: "Das Erzählcafé hier hat auch eine soziale Funktion", meint sie. Fritz, der Obdachlose, sei hier schon Stammgast. Auch viele ältere, alleinstehende Frauen kämen, weil sie sonst ganz allein seien: "Das Erzählcafé bedeutet für viele auch eine Möglichkeit, das Gefühl einer persönlichen Begegnung mit anderen Menschen zu haben."

Wird es erst mal nichts mit einer Neuauflage des Erzählcafés, hat Scheer bereits andere Pläne: "Man könnte doch mal eine Lesereihe im Wedding stattfinden lassen, die auch die Leute im Kiez interessiert. Es gibt hier so viele gute türkisch-deutsche Schriftsteller", sagt sie. "Warum lesen eigentlich alle immer irgendwo in Mitte?"

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