Sexuelle Gewalt beim US-Militär: Verschlusssache Vergewaltigung
Tausende Frauen und Männer werden in der US-Armee Ziel sexuell motivierter Gewalt. Hilfe gibt es kaum. Nun reden Betroffene im Netz - "My Duty to Speak".
BERLIN taz | Michelle hat ein Posttraumatisches Belastungssyndrom, ihre Ehe geht in die Brüche, ihr Vergewaltiger wird nie belangt. Mary wird als mental instabil diagnostiziert und verliert ein Jahr nachdem sie vergewaltigt wurde, ihren Job. Einer Frau sagt ihr Vorgesetzter, man habe Wichtigeres zu tun, als sich mit schlechtem Sex zu befassen.
Michael glaubt noch heute, dass man ihm ansieht, dass er von vier Kollegen vergewaltigt worden ist. Meghan erstattet Bericht darüber, dass sie neun Monate lang von einem Vorgesetzten belästigt worden ist, wird verhöhnt und schließlich gekündigt.
Michelle, Mary, Michael und Meghan waren alle Angehörige der US-Armee und sind im Dienst vom Kameraden oder Vorgesetzten vergewaltigt worden. Ihre Geschichten erzählen sie im Netz, auf der Seite "My Duty to Speak": Meine Pflicht zu reden.
Täter unbekannt
Einige hundert Frauen werden jährlich Opfer sexuellen Missbrauchs in Israels Verteidigungsarmee, angefangen von verbalen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung. Den jungen Soldatinnen und Soldaten - etwa 5 Prozent der Opfer sind Männer - stehen Anlaufstellen zur Verfügung, die Verfahren gegen die Täter einleiten und die die Opfer psychologisch betreuen. Die Armee zahlt in Einzelfällen eine Versehrtenrente an die traumatisierten Frauen. Laut einer Umfrage der Armee wird jede siebte Soldatin im Verlauf ihrer zweijährigen Wehrzeit sexuell angegriffen. Im Jahresdurchschnitt werden 360 Beschwerden eingereicht, von denen sich nur vereinzelte als unbegründet erweisen. Einer der spektakulärsten Vergewaltigungsskandale liegt fünf Jahre zurück. Opfer war die Tochter eines Piloten, der zusammen mit seiner Familie auf dem Campus eines Luftwaffenstützpunktes wohnte. 17 Soldaten standen damals vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, das zu Beginn der Affäre erst elfjährige Mädchen über mehrere Jahre regelmäßig vergewaltigt zu haben. Das Kind erklärte vor Gericht, es habe dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was aufgrund seines Alters an der Straftat nichts änderte. 2001 wurde Yizhak Mordechai, General der Reserve und Exverteidigungsminister, wegen sexuellen Missbrauchs zweier Frauen zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Mordechai hatte infolge des Skandals seinen Ministerposten bereits im März 2000 abgegeben. (sk)
2.049 Fälle sind bekannt, in denen ein Mitglied der US-Armee im Jahr 2010 sexuell gewalttätig wurde. 1.358-mal richtete sich die Gewalt gegen Kollegen. Und 257-mal fiel ein Armeeangehöriger sexueller Gewalt zum Opfer, ohne dass der Täter identifiziert werden konnte.
Dies sind aber nur die Fälle, in denen Ermittlungen innerhalb des Militärs eingeleitet worden sind. Nicht mitgezählt sind jene Fälle, bei denen das Opfer anonym geblieben ist, ganz zu schweigen von denen, die gar nicht erst gemeldet wurden. Schätzungen gehen von insgesamt bis zu 19.000 Fällen im Jahr aus. 90 Prozent der Opfer sind Frauen, 69 Prozent sind zwischen 16 und 24 Jahre alt.
Sehr wenige Fälle führen zu disziplinarischen Maßnahmen gegen den oder die Täter. Darüber gibt es keine genaue Zahlen, rund 8 Prozent sollen es sein. "Wenn jeder um dich herum sagt, dass du verrückt bist und dass das, was passiert ist, der eigenen Fehleinschätzung geschuldet ist, glaubst du es irgendwann selbst", sagt Katie Weber.
Sie wurde im Jahr 1993 vergewaltigt. Sechs Monate zuvor war sie in die Armee eingetreten, und nur eine Woche zuvor war sie in ihrer Kaserne Nürnberg-Fürth angekommen. Sie war 18 Jahre alt, als ein Unteroffizier sie auf der Hintertreppe eines Nürnberger Clubs begrapschte, vergewaltigte und zu Oralsex zwang.
Hass und Selbsthass
Weber erzählte einem Major davon. Doch der unternahm nichts. Ihre Zimmergenossin beschimpfte sie als Lügnerin und Schlampe. Ähnlich verhielten sich alle anderen aus ihrer Einheit, die davon erfuhren. "Ich bin jeden Tag aufgewacht und hasste mich selbst, hasste das Militär und fühlte mich ungeschützt und vernachlässigt", sagt sie.
Sie blieb noch ein Jahr in ihrer Einheit, dann sorgte ihr Vergewaltiger dafür, dass sie entlassen wurde. Alkohol, Suizidgedanken, Selbsthass und Arbeitslosigkeit folgten. Mithilfe von Therapie und Alkoholentzug schaffte sie es, die Schuldgefühle loszuwerden. "Ich war nicht schuld, ich war doch noch ein Kind", sagt Weber heute.
Aufgeschrieben hat sie ihre Leidensgeschichte, weil sie vom Büro für Veteranen-Angelegenheiten Unterstützung brauchte. "Ich musste das tun, weil ich arbeitslos und emotional zerstört war. Es hat vier Monate gedauert, alles aufzuschreiben", sagt sie. Dass sie heute Unterstützung und Therapien bekommt, verdankt sie der Notiz einer Krankenschwester, die sie nach der Vergewaltigung wegen eines Aids-Tests aufgesucht hatte, und ihrem Bericht.
"Viele Studien haben gezeigt, dass Schreiben sehr therapeutisch wirken kann bei Menschen, die einen sexuellen Übergriff überlebt haben", sagt Panayiota Bertzikis, Leiterin des Military Rape Crisis Center, das den Blog betreut. "Das Schreiben hat mir geholfen, die Wahrheit, die so lange verschüttet war, auszugraben", sagt auch Weber.
Vergewaltiger können sich sicher fühlen
Davon, wie schwer es ist, die Wahrheit zu erzählen und gehört zu werden, berichten fast alle Geschichten auf "My duty to Speak". Für Susan Burke sind es die Strukturen innerhalb des Militärs, die dafür sorgen, dass Opfer nicht sprechen oder nicht gehört werden. Vergewaltiger können sich sicher fühlen, brauchen keine Angst zu haben.
Die Staranwältin, die die Kläger im Blackwater-Fall und ehemalige Insassen von Abu Ghraib vertrat, reichte im Februar 2011 gegen die früheren Verteidigungsminister Robert Gates und Donald Rumsfeld Klage wegen mangelnden Schutzes der eigenen Truppe vor sexueller Gewalt ein. 28 Fälle hatte sie dafür aufgearbeitet. Katie Webers Fall war nicht darunter. Der war längst verjährt.
Ein Gericht wies die Klage zurück mit dem Hinweis auf die "einzigartige Disziplinarstruktur des Militärs". Eine juristische Einmischung in Angelegenheiten des Militärs sei ohne Aufforderung des Kongresses unangebracht. "Wir sind nicht überrascht von dem Urteil, aber dennoch enttäuscht, dass das Gericht entschied, dass Vergewaltigung eine innermilitärische Angelegenheit ist", sagt Burke.
Immerhin ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit da, auch die Politik ist alarmiert - schließlich geht es um die Armee. "Wenn sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen versteckt oder ignoriert werden, steht das Vertrauen innerhalb der Truppe auf dem Spiel und damit die kollektive Bereitschaft, den Feind anzugreifen", teilte Jackie Speier, die Kalifornien im US-Repräsentantenhaus vertritt, in einer offiziellen Stellungnahme mit.
Vorgesetzte entscheiden
Sie gehört zu den Abgeordneten, die sich stark für eine juristische Aufarbeitung einsetzen und Schutz für die Opfer fordern. Mitte Dezember 2001 verabschiedete der Kongress ein Gesetz, welches das Verteidigungsministerium dazu verpflichtet, sich mit Gewalt innerhalb der Armee zu befassen und Angestellte zu schützen. Die neue Regelung sieht vor, dass Opfer juristische Beratung bekommen, Vertraulichkeit genießen und an einen anderen Standort versetzt werden.
Eine Versetzung erfordert allerdings, dass das Opfer dafür sorgen muss, dass ein "unbeschränkter Bericht" vorhanden ist. Ein solcher Bericht zwingt den Befehlshaber der militärischen Einheit dazu, Ermittlungen einzuleiten. Die Möglichkeit für Betroffene, anonym zu bleiben und trotzdem den Standort zu wechseln, ist damit dahin.
Laut SWAN, einer Menschenrechtsorganisation, die sich für Veteranen und Frauen in der US-Armee einsetzt, werden Vergewaltigungen in anderen Ländern wie Israel und Australien nicht innerhalb des Militärs untersucht, sondern an die Polizeibehörden übergeben (siehe Kasten).
In der US-Armee ist es der Vorgesetzte, der entscheidet, ob dem Opfer geglaubt wird oder nicht. Und ob er damit zugibt, dass so etwas unter seiner Obhut passiert.Anwältin Burke hat Revision angekündigt. "Jeder, der in diesen Fall involviert ist, weiß, dass es ein langer Kampf im Gericht, im Kongress und innerhalb des Militärs sein wird."
"Wir glauben, dass der Kern des Problems die totale Entscheidungsfreiheit des Befehlshabers ist, wie mit einem Fall umgegangen wird und wie das Opfer behandelt wird", schrieb SWAN vergangene Woche in einem offenen Brief an Verteidigungsminister Leon Panetta. Die US-amerikanische Armee sei die "beste der Welt", ihre Mitglieder benötigten den bestmöglichen Schutz. Eine Antwort bekam sie bislang nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies