Kommentar Urteil Potenzmittel: Diskriminierte Krankheiten

Die Kasseler Urteile zeigen: Mit einem Begriff von Gesundheit, wie ihn die WHO definiert, hat das, was in Deutschland von Krankenkassen bezahlt wird, nichts zu tun.

Die Gesundheit des Menschen ist „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Diese Definition hat sich die Weltgesundheitsorganisation 1946 in ihre Verfassung geschrieben – die gesundheitspolitische Realität im Deutschland des Jahres 2012 lässt sich damit jedoch kaum beschreiben. Schon gar nicht die Logik, die bestimmt, welches Medikament und welche Therapie die Gemeinschaft der Versicherten trägt.

Das Bundessozialgericht hat diese Willkür des Leistungskatalogs der Krankenkassen am Dienstag in zwei Urteilen erneut und grundsätzlich bestätigt. Einmal ging es darum, ob die Kassen einer an Neurodermitis Erkrankten weiterhin bestimmte Salben erstatten müssen, die bis 2004 als durchaus medizinisch nützlich galten, dann aber unter fadenscheiniger Begründung aus dem Leistungskatalog gestrichen wurden.

Im anderen Fall hatte ein an multipler Sklerose und einer damit verbundenen Erektionsstörung leidender Mann geklagt, weil ihm die Kasse verweigerte, das potenzsteigernde Mittel Cialis zu bezahlen.

Beide Kläger haben verloren – und nach dem Sozialgesetzbuch haben sie dies auch zu Recht. Man kann auch darüber streiten, ob es einer Solidargemeinschaft zuzumuten ist, dass sie wirklich die Kosten jeder individuellen Therapie schultert. Wenn aber ausgewählt wird, was bezahlt wird und was nicht, müssen die Kriterien nachvollziehbar und sachlich geboten sein. Das aber sind sie nicht.

So wird etwa Alkoholentzug bezahlt, Raucherentwöhnung jedoch nicht. Und das, obwohl drohende Folgekosten etwa von Lungenkrebs nicht geringer sind als jene, die bei der Behandlung von Leberzirrhose anfallen. Der Wiederaufbau der Brust nach einer Krebserkrankung wird bezahlt, Viagra bei erektiler Dysfunktion dagegen bleibt Privatsache. Obwohl nachgewiesen ist, dass Sex das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen minimieren kann.

Die Kasseler Urteile zeigen einmal mehr: Die Auswahl dessen, was von den Kassen bezahlt wird, diskriminiert bewusst gesundheitliche Einschränkungen gegenüber anderen. Mit einem Begriff von Gesundheit, wie ihn die WHO definiert, hat das alles nichts zu tun. Wohl aber mit einer Gesellschaft, die offenbar hinzunehmen bereit ist, dass physisches wie psychisches Wohlergehen zunehmend zum privaten Risiko werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Heike Haarhoff beschäftigt sich mit Gesundheitspolitik und Medizinthemen. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kinderheim bei Paris ab 1989 Studium der Journalistik und Politikwissenschaften an den Universitäten Dortmund und Marseille, Volontariat beim Hellweger Anzeiger in Unna. Praktika bei dpa, AFP, Westfälische Rundschau, Neue Rhein Zeitung, Lyon Figaro, Radio Monte Carlo, Midi Libre. Bei der taz ab 1995 Redakteurin für Stadtentwicklung in Hamburg, 1998 Landeskorrespondentin für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und von 1999 bis 2010 politische Reporterin. Rechercheaufenthalte in Chile (IJP) und den USA (John McCloy Fellowship), als Stipendiatin der Fazit-Stiftung neun Monate Schülerin der Fondation Journalistes en Europe (Paris). Ausgezeichnet mit dem Journalistenpreis der Bundesarchitektenkammer (2001), dem Frans-Vink-Preis für Journalismus in Europa (2002) und dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse (2013). Derzeit Teilnehmerin am Journalistenkolleg "Tauchgänge in die Wissenschaft" der Robert Bosch Stiftung und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.