Erdogan und die Last von Sivas

POGROM Neun mutmaßliche Lynchmörder genießen Asyl in Deutschland

BERLIN taz | „Mit Gottes Segen“, kommentierte Recep Tayyip Erdogan vorige Woche die Entscheidung des 11. Strafgerichtshofs in Ankara. Der hatte am Dienstag die Anklagen gegen die noch flüchtigen mutmaßlichen Anführer des Pogroms von Sivas für verjährt erklärt. Nach Protesten änderte Erdogan seine Haltung und erklärte: Verjährung gebe es nicht, aber es gehe ja nur um wenige Verdächtige.

Hintergrund: In Sivas hatte 1993 ein islamistischer Mob Brandsätze in ein Hotel geworfen, in dem Teilnehmer eines alevitischen Kulturfestivals untergebracht waren. 35 Menschen, darunter etliche Künstler und Intellektuelle, verbrannten oder erstickten. Obwohl frühzeitig alarmiert, unternahmen Polizei, Armee und Feuerwehr stundenlang nichts.

Pogrome gegen Aleviten hatte es schon 1978 und 1980 gegeben, in Sivas aber ging es nicht allein darum. Auf dem Kulturfestival war auch Aziz Nesin zugegen, ein prominenter Schriftsteller, der als Herausgeber einer Tageszeitung Auszüge aus Salman Rushdies Buch „Die satanischen Verse“ gedruckt und den Zorn der Islamisten auf sich gezogen hatte.

Am 2. Juli 1993 zogen etwa 20.000 Menschen nach dem Freitagsgebet erst durch die Stadt und schließlich vor das Madimak-Hotel und begannen das Gebäude zu attackieren. Steine und Brandsätze flogen.

Die Gäste versuchten verzweifelt, Hilfe zu holen. Einer telefonierte mit Erdal Inönü, damals Vorsitzender der sozialdemokratischen CHP, die als Juniorpartner an der Regierung von Tansu Ciller beteiligt war. Inönü sagte, er hätte die Armee um Hilfe gebeten, aber seine Aufforderung sei ignoriert worden.

Später wurden 118 Beteiligte zu Haftstrafen verurteilt. Neun flohen nach Deutschland und erhielten Asyl. Auslieferungsanträge wurden von deutschen Behörden abgelehnt. Zwei andere Verdächtige lebten unbehelligt in der Türkei – für viele ein Indiz dafür, das staatliche Stellen in das Pogrom involviert waren.

DENIZ YÜCEL