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Archiv-Artikel

Begehrtes Zerrbild

Was macht Richard III. so attraktiv für junge Regisseure? Langeweile und Medienkritik werden zur Folie seines Auftritts in Hamburg und Hannover

In dieser totalen Amoralität Richards liegt die Gefahr des Klischees für alle Nacherzähler, die ein moralisches Gegenbild suchen

VON TILL BRIEGLEB

Da morden sie wieder, die Richards: Erst die Widersacher, dann die Konkurrenten, schließlich die Verbündeten. Als gern gesehener Gast auf deutschen Bühnen schlachtet sich Shakespeares Königsmonster, Richard III., wie eh und je durch die Reihen der Rechtsstaatlichkeit. Jede Bedrohung der Macht muss mit dem Hackebeil ausgemerzt werden.

Doch was macht Richard III., diesen Fiesling ohne Maß und Halt, so attraktiv für die Gegenwart, dass man ihm in Studentenarbeiten von der Ernst-Busch-Schule ebenso begegnet wie am Staatstheater? Wer ist Richard heute, dass junge Regisseure wie Sebastian Nübling oder Sebastian Baumgarten darin ein Symbol für die Verworfenheit des zeitgenössischen Menschen entdecken? Ist Richard heute Angela Merkel, die geduldig alle Mitbewerber um die Macht weggebissen hat, oder Liberias Exdiktator Charles Taylor, der seinen Vorgänger vor laufenden Kameras zu Tode foltern ließ? Ist Richard ein Ego-Shooter oder ein Prinzip, das wie zur Zeit der Rosenkriege gilt? Ist er eine Allegorie der totalen Paranoia oder der Hitler in uns allen?

Shakespeare war Realist. Er beschrieb Menschen, wie sie im Absolutismus handeln konnten, und genau deswegen haben Aktualisierungen mit Richard III. so viel mehr Probleme als mit Hamlet, Macbeth oder Jago. Denn Richard ist geradeaus. Er lähmt sich nicht durch Zweifel, muss zum Verbrechen nicht verführt werden und verwandelt auch nicht kühl Demütigung in Rache. Zwar reflektiert Richard gelegentlich laut sein rudimentäres Gewissen, aber im Rausch der Macht sind weder sein Egoismus noch seine Menschenverachtung steigerungsfähig.

In dieser totalen Amoralität liegt die Gefahr des Klischees für alle Nacherzähler, die damit ein moralisches Gegenbild erwecken möchten. Hans Henny Jahnn, der in Shakespeares Drama noch die Ebene der sexuellen Gewalt und des Religionshasses einzog, hat die Ausschüttung von Angst und Terror in diesem Sinne noch zu verdichten versucht. Seine Adaption „Die Krönung Richards III.“ aus dem Jahr 1920, die jetzt eine ihrer seltenen Aufführungen am Hamburger Schauspielhaus erfuhr, tritt mit all ihren Erfindungen von neuen Gräueln nur auf der blutigen Stelle.

Rettung vor dieser Werktagsausgabe der Hölle schufen Regisseur Sebastian Nübling und sein Hauptdarsteller Samuel Weiss durch eine Resozialisierung mit Shakespeare. Das Grobe verfeinerten sie wieder mit darstellerischen und ironischen Mitteln, um Facetten des totalitären Wahnsinns zu zeigen. Vor einer riesigen Boxenwand als Sinnbild von Kerker, Überwachung und Befehlsverstärkung (Bühne: Muriel Gerstner) agiert Weiss einen Psychopathen aus, in dessen Kopf eine Roulettkugel ihre Runden zu drehen scheint.

In hochneurotischer Aufmerksamkeit spielt dieser Richard Menschen gegeneinander aus, die keinen Deut besser sind als er. Anschließend versucht er, in paranoiden Krämpfen der eigenen Schuldfähigkeit zu entkommen. „Ich bin nicht allein gemein!“ lautet sein Gebet. Nübling wechselt für diese Betrachtung des Bösen klug die Stimmungen. Mal erscheint das Drama als barockes Schauspiel, mal nähert Nübling es dem psychologischen Theater an, vermischt diesen Ernst aber wieder mit Showelementen wie Steppen und Singen, die das Konsumierbare der Gewalt illustrieren. Tiefschwarze Verzweiflung und alberner Klamauk gelangweilter Mörder wechseln sich ab mit hysterischen Dialogen und symbolischen Bildern, etwa die zwillingshafte Verdoppelung verschiedener Figuren. Ohne einen Tropfen Theaterblut zu vergießen, löst Nübling aus Jahnns Blutdampf ein eindringliches, vierstündiges Szenenwerk zu Machtgier und Gewaltpathologie.

Sebastian Baumgarten, der Shakespeares Original am Schauspiel Hannover als Aufgabe hatte, entzog sich ebenfalls den Verpflichtungen des Textes. Er nähert Shakespeare eher der Jahnn’schen Intention an, wenn er in einem Prolog das Ensemble den fatalistischen Überdruss am friedlichen Kapitalismus aufsagen lässt. Vom unsinnigen Zwang, den „Dingen ihre Negativität zu amputieren“, ist da die Rede, von dem Suchtcharakter des Konsums, von der Flucht vor Widersprüchen durch Parolen wie „Alles ist politisch“ und andere Diskurssegnungen. Zusammengefasst wird dieser Hass von Richard: „In einer übersättigten Gesellschaft ist allein der Terror sinnvoll.“

Mit der plakativen Bildkraft eines Fotoromans wird diese These eines Stirner’schen Individualegoismus mit den Mitteln feudaler Gewalt dann in kurzweiligen zwei Stunden durchdekliniert. Hofschranzen, die dem Volk die Demokratie versprechen, sich aber umlauern wie Duellanten, zeigen einen geistig bankrotten Staat, gegen den Ekel zu empfinden nur ein leichter Reflex ist. Richard (Clemens Schick), ein gut aussehender, linkischer Stotterer, braucht deswegen nur seine Demütigungen Charles-Bronson-like in Rachemoral zu verwandeln, um mit dem Massaker zu beginnen. Baumgarten interessiert sich bei seiner Gesellschaftskritik nur selten für Reflexionen. Er verfolgt unter Einsatz von Klischees – Fernsehbilder von Anschlägen, Rockmusik von Marilyn Manson, spritzende Blutblasen und sexuelle Triebhandlungen – die Linie emotionalen Aufruhrs, die er anscheinend für den Hauptantrieb eines zerstörerischen Lebensekels hält. Gleichzeitig überzieht er das Stück mit einem Netz an politischen Gegenwartsassoziationen: König Edward sieht aus wie Michael Moore im Rollstuhl, und die Königsmutter ist eine Campingplatzproletin, die ihren Sohn Richard gerne abgetrieben hätte. Arbeitsplatzverlagerung nach Südamerika, Bandenwerbung der britischen Bank HSBC, eine musikkanaltaugliche „Go-go-Army“ finden ebenso Platz wie Fernsehinterviews und Autowerbungsästhetik.

Diese Form der zeichenwütigen Globalisierungskritik mit Hilfe eines sprachlich verarmten Klassikers ist als Gegenwartsbetrachtung dennoch nicht ganz verkehrt. Übersieht man die vielen erregten moralischen Zeigefinger, dann stellt sich hier eine haltungslose, zersetzte Medienkultur dar, die intensiv damit beschäftigt ist, ihre Langeweile in Gewalt zu übersetzen.

Collage bleiben beide Richards. Als bizarre Despoten, verletzlich, irrational und rachsüchtig, erwecken sie jeder für sich zahllose Bilder, die mit dem zivilisatorischen Megamix der Gegenwart zu tun haben. Als ganze Person bleibt Richard hier wie dort ein Fremder, ein Zerrbild, ein Phantom. Und das ist bestimmt die beste Variante von Richard heute.