: „Ein unabhängiges Kosovo ist vorstellbar“
Der liberale serbische Politiker Ćedomir Jovanović meint, dass in Belgrad noch immer die Seilschaften von Milošević mitregieren. Eine seriöse Vergangenheitsbewältigung steht noch aus. Ebenso wie eine flexiblere Kosovo-Politik
taz: Herr Jovanović, wie weit sind die Reformen in Serbien heute gediehen?
Ćedomir Jovanović: Serbien ist mit den Folgen einer falschen gesellschaftlichen Orientierung konfrontiert. Fünf Jahre nach der Wende gelten hier die gleichen Wertvorstellungen wie unter Milošević, dessen Mitläufer heute völlig gleichberechtigt an der Politik teilnehmen. Parteien, die sich als demokratisch bezeichnen, gehen offene oder geheime Koalitionen mit Parteien ein, deren Führer sich wegen Kriegsverbrechen auf der Anklagebank des UNO-Tribunals befinden. Daran sieht man, dass die Leute, die heute in Serbien an der Macht sind, und die Premier Vojislav Koštunica personifiziert, nicht bereit sind, mit dem Regime Milošević wirklich zu brechen.
Also ist Serbien nicht bereit, sich seiner Vergangenheit zu stellen?
Vergangenheitsbewältigung in Serbien würde heißen, ohne Wenn und Aber die Verantwortung für die eigenen Kriegsverbrechen zu übernehmen. Hier wird aber ausschließlich über die Sanierung der Folgen gesprochen, ohne die Frage nach den Ursachen zu stellen, und das ist einer der Gründe, warum Serbien stagniert …
Aber Serbien arbeitet immerhin mit dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammen …
Diese Zusammenarbeit wird als eine von der internationalen Gemeinschaft auferlegte peinliche Bedingung aufgefasst – und nicht als unsere Verpflichtung, uns mit einer verbrecherischen Kriegspolitik auseinander zu setzen. Die Einigkeit der rechtsradikalen, nationalistischen und so genannten demokratischen Parteien hinsichtlich des UNO-Tribunals und der Kriegsverbrechen ist Besorgnis erregend. Man erkennt zwar den Versuch, die Folgen aus der Welt zu schaffen, also die gesuchten Kriegsverbrecher auszuliefern, um dann diese Geschichte ein für alle Mal zu beenden, anstatt sich mit der Ideologie zu konfrontieren, die zu Kriegsverbrechen geführt hat. Der Prozess der europäischen Integration, in den wir eingebunden sind, ist Ausdruck unseres Wunsches, die Ergebnisse der modernen europäischen Ordnung zu übernehmen. Unsere Bereitschaft, nach dem Modell Europas zu leben, ist weniger ausgeprägt.
Sie haben Präsident Boris Tadić kritisiert, als er nach dem Mord an Zoran Djindjić zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei DS gewählt worden ist. Warum?
Die DS wird heute von der Kohabitation Tadićs mit Koštunica festgelegt, dessen Minderheitsregierung von der Milošević-Partei SPS unterstützt wird. Tadić verurteilt zwar Kriegsverbrechen, zeigt aber keine Bereitschaft, mit der Politik des Kriegsverbrechens, die in Serbien immer noch dominiert, kompromisslos abzurechnen. Die SPS ist die künstliche Lunge, und die DS die Krücke dieser untauglichen Regierung.
Die Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo haben nun begonnen. Wie kann eine Lösung dieses Problems aussehen?
Wir müssen im Kosovo die Realität und die Prinzipien des modernen Zeitalters berücksichtigen. Der Plan „K2“ der LDP schlägt Territorium für Gleichberechtigung vor. Der Plan sieht vor, das Verwaltungsrecht Belgrads auf die Menschen, die im Kosovo leben, zu übertragen. Er verpflichtet dafür die albanische Gemeinschaft auf eine moderne bürgerliche Gesellschaft, die es im Kosovo nie gegeben hat, und außerdem dazu, den dort lebenden Serben ein normales Leben und den serbischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen.
Damit schließen Sie also eine Unabhängigkeit des Kosovo nicht aus?
Es wäre katastrophal, wenn es zur Unabhängigkeit des Kosovo nach einem Konflikt kommen würde, in dem Belgrad auf der einen, und die ganze Welt und Priština auf der anderen Seite stehen. Falls jedoch die Unabhängigkeit des Kosovo das Resultat einer Einigung zwischen Belgrad und Priština wäre, und den Serben alle bürgerlichen Rechte garantiert würden, wäre das vorstellbar.
Muss man sehr mutig sein, um in Serbien ein unabhängiges Kosovo in Erwägung zu ziehen?
Ich halte es nicht für mutig, die Wahrheit zu sagen. Die Resolution der serbischen Regierung dagegen, die eine Unabhängigkeit des Kosovo kategorisch ablehnt, kündigt das Ende der Statusverhandlungen an, noch bevor sie begonnen haben. Statt eine Blut-und-Boden-Ideologie zu verbreiten, müssen wir endlich in der Lage sein, ein historisches Abkommen mit den Albanern zu erreichen.
INTERVIEW: ANDREJ IVANJI