: Die Welt im richtigen Licht
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
Wie geht man mit einer neuen Regierung um? Lauschte man auf den Subtext mancher Leitartikel, gewann man den Eindruck, wir Deutschen hätten im September ein bisschen kopflos unser Kreuzchen auf einem obskuren Bestellzettel gemacht. Jetzt steht die neue Waschmaschine da, das Verpackungszeugs liegt noch herum, ob aber und wie das Ding funktioniert, wissen wir noch nicht. Haben wir diesen monströsen Apparat überhaupt bestellt? Die Betriebsanleitung, sprich: Koalitionsvereinbarung zu entziffern, bedurfte es jedenfalls einer außergewöhnlichen Fantasie.
Die abgewählte Regierung hat uns beigebracht, auf die Protagonisten zu starren und ihre Medienwirksamkeit zu bewerten. Das hat Folgen. Kürzlich, als die große Koalition bereits entschieden war, das Personaltableau aber noch wackelte, schloss der Medienwissenschaftler Norbert Bolz in dieser Zeitung seinen Frieden mit einer inhaltslosen Politik. Um die Welt im richtigen Licht zu sehen, hätten wir zu lernen, „dass es in der Politik nicht primär um Sachen, sondern um Personen“ gehe. Die Auffassung, „die Politik müsse erst die Sachfragen klären, bevor über Personen diskutiert wird“, sei veraltet und eigentlich nur eine intellektuelle Marotte.
Man sollte aber die Geburtswehen der großen Koalition nicht mit dem Design ihrer Politik verwechseln. Vieles deutet darauf hin, dass der Aufmarsch überlebensgroßer Zampanos, das hedonistische Medienspektakel der vergangenen sieben Jahre auf absehbare Zeit keine Neuauflage erfahren wird. Mit Peer Steinbrück, Wolfgang Tiefensee oder Annette Schavan, von der Kanzlerin ganz zu schweigen, betreten Akteure das Polit-Theater, die den Kameras und Mikrofonen gerade so viel zum Fraß vorwerfen werden, wie für die Kartei im Besetzungsbüro absolut unvermeidlich ist. Minimalkost also; den größeren Teil der Energien werden das Aktenstudium und die sorgfältige Abstimmung im Kabinett verschlingen.
Über die Qualität der neuen Maschine sagt dies noch gar nichts aus – nur so viel, dass wir sie nicht mit einem Produkt der elektronischen Unterhaltungsindustrie verwechseln sollten. Es wird einfach langweiliger zugehen. Wer sich darauf spezialisiert hat, die Fernsehshows der Regierenden zu bemäkeln, weil er ihre Politik nicht besonders mag, muss sich künftig ein neues Betätigungsfeld suchen. Jedenfalls kann er sich nicht darauf verlassen, dass Frank Walter Steinmeier bei jeder Gelegenheit öffentlich die Korken knallen lassen oder Franz Josef Jung sich mit seiner jeweiligen Nymphe im Planschbecken amüsieren wird.
Für die Politik-Beobachtung verschiebt sich damit die Perspektive; der Stoff wird dürftiger, kleinteiliger werden. Norbert Bolz will, dass wir – die Wähler und vor allem die stets unzufriedenen Intellektuellen – uns damit abfinden, dass die existenziellen Fragen der Epoche unbeantwortet bleiben. „Die großen Probleme“, so lernen wir von ihm, „werden nie gelöst, sondern immer nur verschoben – zumeist bis zur nächsten Legislaturperiode.“ Diese „Kurzfristigkeit der Politik, die vielen als Kurzatmigkeit erscheint“, sei in modernen Gesellschaften unvermeidbar.
An diesem Text fällt neben dem affirmativen Grundton eine bemerkenswerte Schlichtheit auf. Sie bedient sich gespielter Naivität und zielt auf die Entwaffnung einer Gegenseite, wo die letzten Widerstandsnester, komplexere, aber antiquierte und irgendwie links gestrickte Theorieanstrengungen vermutet werden. Schlichtheit funktioniert als rhetorischer Gestus, der sich listig gibt: Augenzwinkernd wird dem Leser bedeutet, dass es die schwierigen Welterklärungen der Intellektuellen sind, die uns verleiten, die Wirklichkeit falsch zu lesen und stets starrsinnig nach Inhalten zu fragen. „Einfachere Gemüter dagegen“, sagt Bolz, „wollen lediglich wissen, wer was wird. Vermutlich haben diese einfacheren Gemüter aber ein besseres Gespür für das Politische als jene klugen Köpfe.“ Rhetorisches Paktieren mit den so genannten „einfachen Leuten“ bringt immer einen Bonus. Hinzu kommt der kleine (Schein-)Triumph, den der Realitätstüchtige über den realitätsfernen Skeptiker feiern kann.
Im Grunde sagt Bolz nichts anderes als: Das, was ist, ist so, wie es ist – und wie es ist, ist es prima. Oder, mit der TV-Ansagerin Nina Ruge: Alles wird gut! Hinzufügen könnte er noch, mit ihrer Kollegin Tita von Hardenberg: Bleiben Sie stark! Während die Politik sachlicher wird und sich dem Kleingedruckten zuwendet, gefallen sich die Politik-Beobachter zunehmend in medienwirksamer Gestik und einem an Peter Hahne geschulten Strahlemann-Gehabe.
Eine Performance, die in einem kühnen Salto mortale kulminierte, führte jüngst Ulf Poschardt im Spiegel vor. Die weltbewegende Frage, ob der liberale Kulturkritiker Gustav Seibt und der linke Kulturkritiker Diedrich Diederichsen in der Gegenwart angekommen seien, beantwortete er mit einem entschiedenen Nein – was nicht verwundert, weil dort, wo Poschardt die Gegenwart vermutet, bis jetzt wohl nur einer angekommen ist, nämlich er selbst. Interessanter sind seine abschließenden Betrachtungen, die unversehens zu einem Manifest tosender Inhaltslosigkeit eskalierten.
„Kulturtheorie, die gesellschaftlich Verantwortung übernehmen will“, so lesen wir, „muss das Gestern hinter sich lassen können. Sie muss sich auf die Gegenwart einlassen können, um zukunftsfähig zu werden.“ Es gehe darum, „in diesen neuen Zeiten, die nun anbrechen, Neues zu riskieren“. Die Tage der Geborgenheit seien „verblichen“, sie seien „vorbei“, mehr noch: sie seien „unwiederbringlich vorbei“. Und Poschardt setzt noch eins drauf: „Für alle leidenschaftlichen Zeitgenossen“ seien die verblichenen Tage „endlich“ vorbei. Sprach’s, sprang kopfüber ins Ungewisse und ward vorerst nicht mehr gesehen.
Seitdem der postmoderne Eskapismus seinen Ekel an der „Political Correctness“ abgearbeitet und der Begriff seinen Charme als Wurfgeschoss verloren hat, muss sich die politische „Incorrectness“ neu positionieren. Das schlichte Gemüt des Welt am Sonntag-Intellektuellen – hier rotiert es rauschhaft als Phrasenmaschine für die kommende große Zeit. Sozialabbau und Umweltzerstörung, die Entsolidarisierung der Gesellschaft und die irrationale Diktatur des Markts; all dies verschwimmt zum leider unvermeidlichen Beiprogramm eines epochalen Aufbruchs, eines Aufbruchs ohne Sinn und Ziel, der um so begeisterter gefeiert wird, je deutlicher sich zeigt, dass er nicht mehr als die Wiederkehr des Immergleichen bringen wird.
Vielleicht sind medienintellektuelle Performancekünste dieser Art noch ein Relikt aus der Zeit von Rot-Grün, als ein paar Ich-Strategen um öffentliche Aufmerksamkeit rangelten. Vielleicht aber werden sie noch schriller werden, wenn die neue Maschine – unauffällig und leise, gut abgestimmt und ohne Triumphalmusik – zu rattern beginnt und, immer schön kleinteilig, den Abbau des Sozialstaats zentimeterweise voranschiebt. Irgendwann werden sie verstummen, weil das Neue plötzlich sehr alt und grau aussieht.