Das gute Leben der Petra Kelly: Türen öffnen. Tätig sein.

Petra Kelly soll das gute Leben gesucht haben. Ihr Lebensstil, ihre Entäußerungen, ihr Tod sprechen dagegen. Annäherung an eine große Politikerin.

Petra Kelly: das gute Leben im Schlechten. Bild: imago/ Sven Simon

An einem Herbstabend, vermutlich dem 1. Oktober 1992, geht ein Mann, 69 Jahre, die wenigen Schritte vom Arbeitszimmer ins Schlafzimmer. Erster Stock, Swinemünder Straße 6, 53119 Bonn. Er erschießt die Frau, 44 Jahre, die dort auf dem Bett liegt auf ihrer rechten Körperhälfte, seine Lebensgefährtin. Er erschießt sich selbst. Derringer Special, zweiläufig, Kaliber 38.

Man fragt, warum. Man weiß: Petra Kelly, klein, blass, sprunghaft, vehement, die Größte der Grünen, Gründungsmitglied, Bundesvorstandssprecherin, 1983 im Bundestag, immer gegen atomare Aufrüstung, immer Friedensaktivistin, ihr Idol: Gandhi, auch Menschenrechtsaktivistin, ihr Idol: Martin Luther King, Feministin, Idealistin dazu, stirbt im Schlaf. Sie wollte das gute Leben.

Was man noch weiß: Petra Kelly war anstrengend. „Sie war meine engste Weggefährtin“, sagt Eva Quistorp, Grüne der ersten Stunde. „Ich finde es schwierig, sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu beschreiben“, sagt Marieluise Beck. Grüne der ersten Stunde. Was man nicht weiß: Was Petra Kelly mit dem guten Leben zu tun haben soll.

Beck: „Zu gutem Leben gehören Ruhe, Gesundheit, eine ausgewogene Ernährung. Petra Kelly war immer gehetzt, überdreht fast, sie hat nie sonderlich auf sich aufgepasst und sich oft von Käsekuchen und Cola ernährt.“ Quistorp: „Petra wusste schon, was guttut, auch mal ’ne Massage. Doch für ’ne Massage hatte sie keine Zeit.“

Omi ist ein Stück gutes Leben

Petra Karin Kelly heißt noch Petra Karin Lehmann und geht gerade in die Schule, als ihr Vater die Familie verlässt. Mutter und Großmutter ziehen sie groß, vor allem die „Omi“ ist ihr ein Stück gutes Leben. Ihr wird sie später öffentliche Liebeserklärungen machen, sie wird sie Vorbild und Lehrerin nennen, und sie wird von den Nachmittagen auf der Veranda schwärmen, damals im schwäbischen Günzburg: Die Omi liest aus der Zeitung vor, die junge Petra, schüchtern und neugierig, stellt Fragen. Die junge Petra, schüchtern und neugierig, will Nonne werden.

Und dann? Viel: Nierenleiden. Nierenoperation. Neuer Vater. Neuer Nachname: Captain John E. Kelly ist Offizier der amerikanischen Armee, wird auf einen Stützpunkt in den USA versetzt und nimmt die Familie mit nach Columbus, Bundesstaat Georgia. Neuer Kontinent. Keine Omi.

Nierenleiden. Nierenoperation. Schwester Grace P. wird geboren. Bruder John Lee wird geboren. Schwester Grace erkrankt an Krebs. Baker High School. Hampton High School. Unter den besten fünf Prozent des Abschlussjahrgangs. American University, Washington, D. C. Präsidentschaftswahlkampf Robert Kennedy? Dabei! Präsidentschaftswahlkampf Humphrey? Dabei! Petra Kelly bittet um eine Audienz bei Papst Paul VI. Für ihre krebskranke neunjährige Schwester. Petra Kelly bekommt eine Audienz bei Papst Paul VI. Nierenleiden. Nierenoperation. Schwester Grace stirbt.

„Vertrautheit war Petra wichtig, Liebe, Familie. Vertrautheit, in der sie vieles teilen kann, aber nicht alles“, sagt Eva Quistorp, die spricht, als gäbe es kein Morgen, ähnlich wie Kelly – auf YouTube kann man es noch sehen – ein Redeschwall jagt den nächsten. „Klar war sie fordernd, aber sie hat auch dieses warme, weiche Gefühl vermitteln können, ab und zu hatte sie etwas Mädchenhaftes, das durchblitzte, etwas Naives beinah, wie aus früheren Zeiten, amerikanisch-naiv.“

„Einerseits mochte ich sie, andererseits war sie schwer zu erreichen“, sagt Marieluise Beck. „Wer so viel auf sich nimmt, kann schlecht Nähe aufbauen.“ Ob sie mit Kelly persönlich befreundet war? „Nein.“

Zurück nach Europa

Schwester Grace stirbt. Und dann? Mehr: Zurück nach Europa. Ans Institut der Uni Amsterdam! Eine Dissertation! Eine Patenschaft für ein tibetisches Flüchtlingskind! Doch keine Dissertation. Im Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, 1973. Die Gründung der Grace P. Kelly Vereinigung zur Unterstützung der Krebsforschung für Kinder. Der Eintritt in die SPD.

Danach: Die Critical-Mass-Konferenz in Washington. Die Anti-AKW-Demo in Kalkar. Der Besuch in Hiroshima und Nagasaki. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Bürgerinitiative Umweltschutz. Der Austritt aus der SPD, den sie aus Protest gegen die Atompolitik der Partei für nötig hält und auch weil sie sich zunehmend bei den Grünen engagiert.

Dazwischen: Besuche bei Omi. Abtreibung. Schwächeanfälle. Männer.

„Ich erinnere mich“, erzählt Marieluise Beck, „dass wir sie einmal zu einem Vortrag nach Pforzheim eingeladen hatten, wo ich wohnte.“ Der Raum war voll, Petra Kelly war angekündigt. Anderthalb Stunden vor Beginn ließ Kelly ausrichten, sie müsse absagen, aus gesundheitlichen Gründen. „Da versprachen wir ihr die Geigen vom Himmel! Es gebe doch keinen Ersatz! Wir könnten doch all die Leute nicht einfach nach Hause schicken!“

Da überlegte es sich Petra Kelly anders. „Sie wurde dann von irgendeinem Gönner in einem BMW in rasendem Tempo von Nürnberg nach Pforzheim chauffiert. Aufgelöst kam sie an, hielt einen wie immer ungeordneten Vortrag mit der ihr typischen, unglaublich großen Kraft, Menschen mitzureißen.“

Und Eva Quistorp brach einmal in Tränen aus, als Kelly nach einer Konferenz ihre Sachen und die Omi packte, auf zum nächsten Termin. Quistorp war dieses Verhalten fremd; in ihrer alternativen Westberliner Szene, da diskutierte man danach doch weiter. Sie habe damals noch gestammelt: A-aber, d-das hat doch nichts mit Frauenbewegung …!

Sie sagt: „Diese Art Freundschaft musste ich erst lernen.“ Schwächeanfälle. Männer. Und schließlich? Zu viel: Gründung der Grünen, im Vorstand der Partei, die Spitzenkandidatin der bayrischen Landesliste. Dann der Krefelder Appell gegen die Nachrüstung, wieder ein Besuch in Hiroshima, Landtagswahlen. Beziehung zu Gert Bastian, Exgeneralmajor, 12. Bundeswehr-Panzerdivision, jetzt Friedensaktivist und Grüner. Petra Kelly prägt den Begriff der „Antiparteien-Partei“, 1983: Einzug in den Bundestag, 5,6 Prozent der Zweitstimmen, 28 Mandate.

Sie sieht glücklich aus auf dem Foto vom 29. März, als sie von der Bonner Innenstadt zum Bundestag spaziert, rote und rosa Gerbera in der Hand, in einem lilafarbenen Mantel, neben ihr Schily, Bastian und Beck in Schwarz, Grau und Beige.

Danach: Erste Rede im Bundestag, Petra Kelly kann auf der Straße mobilisieren, nicht aber im Plenarsaal. Und Petra Kelly weigert sich – trotz Parteibeschluss –, zu rotieren: nach zwei Jahren das Mandat abzugeben. Treffen mit Honecker, Gorbatschow, dem Dalai Lama.

Nicht in den Bundestag gewählt

Bundestagswahl, 1990. Erster Rückschlag: Kelly will Direktkandidatin im Wahlkreis Fulda werden, wird nicht auf den Listenplatz gewählt und zieht ihre Kandidatur zurück. Zweiter Rückschlag: Die Grünen erhalten im Westen nur 4,8 Prozent, im Osten nur 6 Prozent der Zweitstimmen. Strukturreform, Wahl neuer Parteispitze. Dritter Rückschlag: Kelly erhält nur 39 Stimmen von 660.

Dazwischen: Kongresse in Australien, Mexiko, Jugoslawien, Indien, Ostberlin. Demos für Abrüstung in Ost und West, Großdemos der Friedensbewegung, Mauerfall. Gert Bastian. Briefe an Ämter, Banken, Politiker. Drohbriefe von Rechten, Fernsehdiskussionen, Erschöpfung, Kreislaufbeschwerden, Gert Bastian, Angstattacken, Neurosen. Gert Bastian, Petra Kelly, Gert, Petra, Petra, Gert, PetrandGert.

„Das waren irrwitzige Rhythmen. Petra saß ganze Nächte im Büro. Morgens klebten überall Zettel mit Bitten und Anweisungen“, sagt Marieluise Beck jetzt. „Wenn man das Elend der ganzen Welt abzuwenden versucht, ist die Gefahr groß, in ein Tempo zu kommen, in dem man sich verliert. Vor allem wenn es einem schwerfällt, sich abzugrenzen.“

Und dann sagt sie: „Die Entscheidung, so zu leben, im positiven Sinne als Fundamentalistin, ohne Rücksicht auf sich selbst, ist aber vielleicht auch eine Form der Erfüllung.“ Die Entscheidung, das gute Leben nicht für sich zu suchen, sondern für andere, auch.

Selbstverwirklichung, sagt auch Quistorp, habe für Kelly gutes Leben bedeutet. „Dazu gehört: tätig sein. Dass man mutig ist, Türen öffnet, Risiken eingeht und wohl auch, dass man scheitert. Bestimmt hat sie manchmal zu viel riskiert.“ Aber wer hätte „zu viel“ schon sagen wollen bei einer so zierlichen Person, die sich das gute Leben zum politischen Auftrag gemacht hatte?

Vielleicht Gert Bastian? Beck: „Gert Bastian musste mithalten bei ihrem Tempo. Er hat sie politisch beschützt, wenn sie angegriffen wurde, er hat ihr Kuchen gebracht. Er war da, um sie zu nähren.“

Quistorp: „Zuletzt hing der Mann an Petra wie ein Stein.“ An einem Herbstabend, vermutlich dem 1. Oktober 1992, ging der Mann, 69 Jahre, die wenigen Schritte vom Arbeitszimmer ins Schlafzimmer. Erster Stock, Swinemünder Straße 6, 53119 Bonn.

Annabelle Seubert, sonntaz-Redakteurin, war sechs Jahre alt, als Petra Kelly starb

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