Welttreffen des Anarchismus: Dagegensein im Heidiland
Die Schuldenkrise verhilft dem Anarchismus zu neuer Popularität. Jetzt findet ein „Welttreffen“ in der Schweiz statt. Die Liste der Dinge, die man nicht will, ist lang.

Stolz weht die Fahne im Wind. Bild: imago/Jürgen Hanel
BERN dpa | Superpünktliche Züge, unkrautfreie Dorfstraßen, Berglandschaften wie gemalt. Anarchismus im Heidiland? Schwer vorstellbar. Aber wahr: Das Schweizer Uhrmacherstädtchen Saint-Imier gilt als Wiege der Antiautoritären Internationale. Dass anarchistisches Gedankengut in Krisenzeiten so populär wie schon lange nicht mehr ist, demonstrieren linke Weltverbesserer aus etlichen Ländern ab Mittwoch im Berner Jura.
Bis zu 3.000 Teilnehmer „von fast jedem Flecken der Erde“ erwarten die Veranstalter des fünftägigen „Welttreffens des Anarchismus“. Es gehe um „diverse Wege des Widerstands“ gegen gesellschaftliche Übel, sagt Cheforganisator Michel Némitz. Mitreden darf jeder.
Vom Umfang her erinnert das Programm an die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Manche Themen sind selbst für Anarchismus-Anfänger nachvollziehbar. Der arabische Frühling und seine Folgen etwa, der Kampf gegen Rechtsextremismus oder die Schuldenkrise in der Eurozone.
Komplizierter könnte es für Laien bei vielen anderen Themen werden, etwa am Runden Tisch zum „Anarchafeminismus“. Die Wortschöpfung von US-Feministinnen – so klärt das österreichische Internetportal anarchismus.at auf – bedeute „Radikalfeminismus, gemischt mit libertären Ideen und anarchistischer Theorie und Praxis“. Alles klar?
Leichter als das „Wofür“ können Revolutionäre meist darstellen, wogegen sie sind. Auch die „Prinzipien des Treffens“ in Saint-Imier bieten eine lange „No-No-Liste“: „Wir erinnern an unsere Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus, Patriarchat, Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Staatlichkeit, jeglicher Religion und jeder anderen Form von Unterdrückung.“
Keine Rassisten, keine Hunde
Entsprechende Einstellungen, warnen die Organisatoren der verschiedensten anarchistischen Verbände, „werden bei dem Treffen nicht akzeptiert“. Hunde übrigens auch nicht. Darauf wird im Programmheft der Anarchistischen Föderation eigens hingewiesen, „da das Treffen möglichst angenehm für alle Menschen und besonders für Familien und Kinder sein soll“.
Wie sehr das Interesse an libertären Weltverbesserern zugenommen hat, zeigt der Erfolg des US-Anarchisten David Graeber. Sein Buch zur Finanzkrise „Schulden: Die ersten 5.000 Jahre“, in dem er das Ende des Schuldenkapitalismus proklamiert, fand selbst bei Neoliberalen Anerkennung.
„Wenn die Eliten ratlos sind, fragen sie die Anarchisten“, überschrieb die linke Jungle World ein Interview mit Graeber. Symbol eines neuen Anarchismus ist für den Dozenten der University of London die Bewegung „Occupy“ - auch „weil sie sich weigert, unter einem Label zu firmieren, und sei es, das des Anarchismus“.
Antiautoritäre Uhrmacher
Dass der seinerzeit im Berner Jura aufblühte, hatte wohl etwas mit der eher linken und zugleich antiautoritären Einstellung vieler der damaligen Uhrmacher in dieser Region zu tun. Ideen des in die Schweiz geflohenen russischen Revolutionärs und Anarchisten Michael Bakunin seien für sie „eine attraktive Alternative zur strengen Doktrin von Karl Marx“ gewesen, schrieb die Berner Tageszeitung Der Bund.
Anlass für das jetzige Welttreffen ist ein Jubiläum: Vor 140 Jahren kamen in einem Gasthof in Saint-Imier anarchistische Marx-Gegner zu einem „Weltkongress“ zusammen. Sie riefen 1872 die Antiautoritäre Internationale aus. In der Arbeiterbewegung blieben sie stets eine Minderheit. Aber als Verdienst wird längst weithin anerkannt, dass Anarchisten lange vor dem Stalin-Kult und den Gulags in der Sowjetunion vor den Gefahren eines autoritären Sozialismus gewarnt hatten.
Leser*innenkommentare
Gustav Braun
Gast
Lieber Thomas Bumster,
bitte schreib nicht von Dingen von den du keine Ahnung hast oder von Veranstaltungen bei den du nicht dabei gewesen bist.
Ich war bei dem "Dagegensei"-Treffen und es hatte mehr den Karakter eines "Dafuersein"-Treffens.
Fuer die Freiheit.
Wolfgang Haug
Gast
Anfangs war die taz auch mal antiautoritär, stammte u.a. aus der Tradition des ID Informationsdienst unterbliebener Nachrichten und hatte durchaus u.a. auch anarchistische Wurzeln. Es zeigt schon vel, wenn heute ein Artikel erscheint, der genauso platt daher kommt wie dies in jeder bürgerlichen Zeitung auch stehen kann oder anders herum, die FAZ würde kompetenter dazu schreiben. Das an die Adresse dieser Ex-Alternative....
Wolfgang
cirrusMinor
Gast
Bei aller Sympathie für anarchistische Ideen - wenn sie abrupt realisiert werden würden, würde wohl ein Teil der Menschen (ich fürchte: die Mehrheit) überfordert sein. Aus psychologischen Gründen, wegen des plötzlichen Wegfallens autoritärer Strukturen.
Realistischerweise dürfte uns daher der Staat noch eine Zeit lang erhalten bleiben. Demokratischer Staatssozialismus übergangsweise.
Mich hätte jetzt wirklich interessiert, ob solche Gedanken auf dem Welttreffen thematisiert werden. Leider beschränkt sich der Artikel aber auf "Hundeverbot" und "Dagegensein". Schade. Aber vielleicht ist das auch zu viel verlangt...?
marcos
Gast
lustig, dass taz-artikel zum thema "anarchismus" auch gleichzeitig 1:1 in der finacial times erscheinen, oder war's umgekehrt...??? ich versuche jetzt keinen zusammenhang zwischen diesen beiden medien herzustellen. nein.
erst die Arbeit und dann
Gast
die Krankheit.
könnte den Herrschenden so passen.
David Graebers Bücher werden in der gesamten etablierten Presse rezensiert, Occupy Wallstreet und Occupy in many US-cities geht weiter.
hier der link zur Webseite:
http://www.anarchisme2012.ch/
schweizer bank-tresorcode
Gast
Yeih, ich bin voll für Anarchie und für Heidi und für Feminismus. Wer dagegen ist, hat doch nur Schiss, dass ihm nichts besseres einfällt. Oder davor, dass er es dann selber machen muss - das, was die alten Konzepte nicht konnten.
Find ich super, dass die sich da treffen. Ob dabei wohl mehr rauskommt als noch mehr Bücher (aus Bäumen gemacht), schlau geschwungene Reden und frei (?) geführte Diskussionen?
Afu
Gast
Bei dem Artikel und den Kommentaren fällt mit zwangsläufig wieder das Lied Linke Spießer von Slime ein,woran das wohl liegt?
Ich empfehle dem Autor und auch einigen Kommentaroren(Slowener,Isomatte) mal die Werke, von Bakunin oder Mühsam zu lesen,um mal halwegs was vernünftiges zum Thema Anarchismus zu schreiben.
Mit anarchosyndikalischtischen Grüßen
Kristana
Gast
@Slowener
Anarchie heißt NICHT ohne Gesetze und Regeln, sondern ohne Herrschaft.
Irgendwie ist die falsche Definition in den meisten Köpfen. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb richtig ist.
http://de.wikipedia.org/wiki/Anarchie
NIEMAND hat das Recht einen anderen zu beherrschen!
Julian
Gast
Oh taz, oh taz-Leser,
gibt es noch einen Linken im Dunstkreis dieser Zeitung?
"Ohne Staat funktioniert es nicht. Es würde das Recht des Stärkeren gelten." Vergessen wir doch einfach, dass der Staat das institutionalisierte Recht des Stärkeren ist. Vergessen wir doch einfach, dass der Staat ein Mittel des Klassenkampfes von oben ist.
"Lauter islamophobe Spinner" -.- Geh einfach mal BILD lesen, da hast du deine islamophoben Spinner.
Und jetzt noch ein paar Worte zur taz:
Ihr werft uns vor, nur "dagegen" zu sein, so wie die CDU das schon der "Dagegen-Partei", den Grünen vorgeworfen habt. Achtet mal darauf, in welche Ecke ihr euch mit eurer Rhetorik stellt.
Und ja, wir sind gegen Imperialismus, Ausbeutung, Rassismus, Sexismus, Unterdrückung und Staat. Und wenn ihr doch noch irgendwie links seid, dann hört auf so reaktionäre Artikel zu schreiben und schließt euch dem Protest an.
Und hattet ihr wirklich nichts wichtigeres zu berichten, als dass zu dem Treffen keine Hunde zugelassen sind? Dann schreibt doch lieber darüber, welche Promis heute heiraten und dass Bushido Politiker werden will.
Ach, und schön, dass eine "linke" Zeitung den größten Wert des Anarchismus darin sieht, dass er vor einer anderen Form des Sozialismus gewarnt hat.
Geht doch alle mal an Brot für die Welt spenden und freut euch über euren progressiven Lebensstil.
@ Anna
Gast
"Naja, zumindest haben wir ein paar lustige Minuten dank dämlicher Kommentare zu gewinnen!"
Dann lesen Sie sich den Ihrigen einfach noch mal durch. Bei Ihrem Humorverständnis werden Sie sich schütteln vor Lachen.
Nico B.
Gast
Passender Ort für dieses Treffen, immerhin gehört der Anarchismus im Kanton Bern zum geschützen Brauchtum, Kategorie "Gesellschaftliche Praktiken, Rituale und Feste" (http://www.erz.be.ch/lebendigetraditionen).
Offenbar schätzt man die Bedrohung durch den Anarchismus ähnlich ein wie die durch "Eiertütschen auf dem Kornhausplatz" oder die "Topfkollekte der Heilsarmee". Revolution ist auch nicht mehr, was sie mal war :)
isomatte
Gast
Das sind doch nur irgendwelche islamophobe Spinner. Man muss solche Leute bekämpfen die gegen Religionen sind!
Slowener
Gast
Ohne Staat (Exekutive, Legislative und Judikative) funktioniert es nicht. Es würde das Recht des Stärkeren gelten.
Anna
Gast
Warte schon gespannt auf die ersten Kommentare, Popcorn griffbereit. Wer der selbsternannten Anarchismusexperten die nie auch nur ein Buch zum Thema in der Han hatten aber dennoch alles besser und sowieso die einzige Wahrheit darüber wissen liefert das dümmste, lächerlichste, langweiligste Argument warum Anarchismus nicht funktionieren könne und AnarchistInnen von Grund auf böse seien?? Auf! Auf! Wir haben eine Welt zu gewinnen! Naja, zumindest haben wir ein paar lustige Minuten dank dämlicher Kommentare zu gewinnen!