: Ein Pardon im Namen der Justiz
Vier Jahre haben sechs Menschen aus dem nordfranzösischen Outreau wegen Pädophilie im Knast gesessen – zu Unrecht. Die Staatsanwaltschaft fordert Freispruch
PARIS taz ■ Outreau, französische Kleinstadt in der Nähe der belgischen Grenze, in der die Justiz das Zentrum eines „internationalen pädophilen Netzwerks“ ausgemacht zu haben glaubte, wird als Super-GAU in die Annalen eingehen. In Outreau hat die französische Justiz das Leben von 14 Menschen ruiniert. Hat sie schwerer sexueller Verbrechen an Kindern beschuldigt. Hat sie für bis zu vier Jahre ins Gefängnis gebracht. Hat sie von ihren Familien, von ihren Nachbarn und von ihrer Arbeit getrennt.
Einer der 14 zu Unrecht Beschuldigten hat das Gefängnis nicht überlebt. Der 33-jährige François Mourmand starb an einer Medikamentenüberdosis in seiner Zelle. Sieben weitere sind im Juli 2004 freigesprochen worden. Die sechs letzten mussten bis gestern auf ihre Rehabilitierung warten. Am Nachmittag beriet das Geschworenengericht in Paris noch über das Urteil.
Der Staatsanwalt hatte Freispruch für alle sechs Angeklagten beantragt: „Weil sie unschuldig sind.“ Und der Oberstaatsanwalt von Paris hatte sich in einer Geste bereits vor der Urteilsverkündung bei den zu Unrecht Verfolgten entschuldigt. „Im Namen der Justiz.“
Der Berufungsprozess im Pariser Gerichtspalast dauerte vier Wochen. Jeder Tag brachte neue Einbrüche in der Anklage gegen die sechs: der Arbeiterpriester Dominique Wiel, das Ehepaar Franck und Sandrine Lavier, der Arbeiter Daniel Legrand, der Gerichtsvollzieher Alain Marécaux und der Arbeitslose Thierry Dausque. Am Ende des Verfahrens brach die Anklage wie ein Kartenhaus zusammen. Mehrere Kinder, die jahrelang die Erwachsenen der Pädophilie beschuldigt hatten, gaben in Paris zu, dass sie gelogen hätten. Mehrere Psychologen gaben zu, dass sie nicht genügend Informationen hatten, um jedem Einzelnen der 14 Beschuldigten zu bescheinigen, dass er oder sie „pädophile Persönlichkeitsmerkmale“ habe. Und mehrere SozialarbeiterInnen und ErzieherInnen ließen durchblicken, dass sie dem Aussagen der Kindern viel zu schnell und naiv geglaubt hatten. Zuvor nicht berücksichtigte Berichte belgischer Ermittler zeigten, dass es mehrere Schauplätze von angeblichen Verbrechen – wie einen Bauernhof und Videofilme von sexueller Gewalt der „Pädophilen“ von Outreau – überhaupt nicht gab.
In den vier Wochen in Paris konkretisierte sich das Bild einer großen und internationalen Affäre, die erst im Büro von Untersuchungsrichter Fabrice Burgaud zu einer solchen geworden war. Tatsächlich hat es Anfang des Jahrtausends im fünften Stock des Wohnblocks „Merles“ (Amseln) in einer Sozialsiedlung am Rande von Outreau massiven Missbrauch gegeben. Opfer waren die vier Söhne der Familie Delay, Täter ihre Eltern Myriam und Thierry Delay sowie ein Paar aus demselben Wohnblock.
Der komplette Rest – die Anklage gegen 14 weitere Erwachsene – ist erstunken und erlogen. Im Zentrum stand die Mutter Myriam Delay. Sie erfand im Büro des damals 28-jährigen Untersuchungsrichters sexuelle Gewaltakte gegen Kinder, erzwungene Zoophilie mit Hunden und Schweinen, das Drehen von Pornofilmen für den „internationalen Markt“ und sogar den Mord eines Mädchens auf einem belgischen Bauernhof.
Der Untersuchungsrichter glaubte ihr. Jeweils neu Beschuldigte ließ er verhaften und nahm Ermittlungen auf. Und erklärte jenen, die ihre Unschuld beteuerten, dass eine „Zusammenarbeit“ besser für sie sei. Manche Beschuldigten ließen sich darauf ein. In Burgauds Büro erfanden die jungen Männer Legrand und Franck Levier sogar einen Mord, den sie nie begangen haben.
Seit vorgestern die Staatsanwaltschaft den Freispruch für alle verlangt hat, sind in Paris Ströme von Freudentränen geflossen. Der Gerichtsvollzieher Alain Marécau, der sich im Gefängnis aus Protest beinahe zu Tode gehungert hätte, hüpfte wie ein kleiner Junge die Stufen vor dem Gericht herunter. Und der Arbeiter Daniel Legrand, fühlt sich „warm ums Herz“. Nach vier Jahren, die er zu Unrecht im Gefängnis verbringen musste, versucht er in die Zukunft zu schauen. „Ich bin 24 Jahre alt“, sagte er „ich bin jung.“ Der Arbeiterpriester Wiel (68), der im Büro des Untersuchungsrichter aus Protest die Marseillaise gesungen und 112-mal vergeblich seine Freilassung beantragt hat, erklärte: „Ich bin sehr glücklich.“
DOROTHEA HAHN