piwik no script img

Archiv-Artikel

Wenn man Neurosen sehen könnte

HEREINSPAZIERT UND MITGEMACHT Das Kölner Museum Ludwig widmet dem Wiener Künstler Franz West die erste große Retrospektive in Europa. Die war schon lange überfällig

VON ANGELA HOHMANN

„Treten Sie hinter den Paravent, entkleiden Sie sich und legen sie das Gewand auf den Sessel. Bleiben Sie 5 Minuten so und verhalten Sie sich nach eigenem Ermessen.“ So lautet die Handlungsanweisung des österreichischen Künstlers Franz West an den Betrachter der Installation „O.T.“ von 1989, die ein Ensemble folgender Gegenstände versammelt: einen Paravent, hinter dem ein Stuhl steht, ein Passstück auf einem Sockel und der Wandtext mit der Aufforderung zur Benutzung des Kunstwerks. Schon diese Arbeit zeigt, wie provokant und humorvoll der 1947 geborene West Kommunikationsregeln zwischen Kunstwerk und Rezipient im Museum unterläuft, indem er den Besucher zum Protagonisten seiner Inszenierungen macht.

„Franz West – Autotheater“ heißt folgerichtig die erste große Retrospektive von Wests Arbeit in Europa. Das Kölner Museum Ludwig richtet sie mit 40 Werken und Werkgruppen aus, zu ihnen gehören auch Collagen und drei Monumentalskulpturen, einige davon in unmittelbarer Umgebung des Museumsgebäudes. Die Ausstellung – zunächst in Köln, dann in Graz und Neapel zu sehen – gibt einen Überblick über Wests Schaffen von 1972 bis heute und zeigt dessen Singularität und Originalität.

In enger Zusammenarbeit mit Franz West sind die Arbeiten in nichtchronologischer Aufstellung zu bewundern und – für ein Museum ungewöhnlich – zu benutzen, darunter die seit 1974 entstandenen Passstücke. Diese abstrakten organischen Objekte aus Polyester mit stielartigem Griff sollen wie Prothesen an den Körper gehalten werden, wobei sie allerdings entgegen ihrer Bezeichnung nicht so recht passen wollen und vielerlei Assoziationen zulassen. In ihrer Unförmigkeit symbolisieren sie für West Neurosen, denn „wenn man Neurosen sehen könnte, sähen sie so aus“, sagt der Künstler und erinnert an Freuds Ausspruch vom Menschen als „Prothesengott“. Aus den Passstücken entstehen seit Mitte der 1980er-Jahre als Hybridform die Möbelskulpturen, eine Entwicklung, die humorvoll in der Installation „Genealogie des Unbegreifbaren“ (1997) nachzuvollziehen ist, einer wie in einem Schrein hinter Glas aufgebahrten Ansammlung von Passstücken und einem verfremdeten Stuhl.

Mal Kantinenmöbel, mal Kunstobjekt

Kasper König, der Wests Schaffen seit den 1980er-Jahren mit mehreren Ausstellungen im Museum Ludwig begleitet hat, ist überzeugt, dass West „wie kein anderer sehr produktive Missverständnisse erzeugt“. Immer wieder frech und dialogisch fordert dieser kunsttheoretische Prämissen heraus, verwischt die Grenzen zwischen autonomem Kunstwerk und Gebrauchsobjekt, arbeitet mit den Mitteln der Skulptur an deren Auflösung. Augenscheinlich wird das in solchen Möbelskulpturen wie der Installation „Kantine“. Das aus 25 Tischen und 100 Stühlen bestehende Kunst- und Nutzobjekt ist normalerweise in den Museumsbetrieb integriert, im Augenblick ist es, aus- und wieder aufgebaut, Teil der aktuellen Ausstellung.

Die Arbeiten aus den verschiedenen Schaffensperioden zeigen die Vielseitigkeit von Wests Werk und verweisen auf seine Wurzeln: Beeinflusst vom Wiener Aktionismus, der speziellen österreichischen Rezeption der amerikanischen Fluxus- und Happeningbewegung, wendet er sich von deren blutrünstigen Experimenten ab und macht die Methoden ihrer amerikanischen Paten für seine Sezierung des klassischen Skulpturenbegriffs fruchtbar. Deutlich lassen sich der spielerische Umgang mit Konventionen und Kunstgattungen, die Annäherung von Kunst und Leben, Institutionskritik, der provokante Dialog mit dem Publikum und vor allem der subversive Witz erkennen.

Auch da, wo West mit autonomen Skulpturen arbeitet, fehlt niemals der hintergründige Humor wie im Titel der Installation „Endlich zwei gute Skulpturen“ (2002), zwei unförmigen organischen Gebilden in Hellblau und Pink, die einen Plakatentwurf in Schwarz-Weiß umrahmen, auf dem West mit just diesen beiden Objekten zu sehen ist. In seinen Collagen leuchtet eine weitere Tradition auf, die mit bissigem Humor die Grenzen traditioneller Kunstgattungen auslotet. Für diese Arbeiten isoliert West Figuren aus Werbebroschüren und übermalt den Hintergrund, so dass ihr Auftritt wie vor einem Bühnenraum wirkt. Ihrer Kontexte beraubt offenbaren die Figuren ihre Absurdität und erinnern an die Collagentechnik von Richard Hamilton, dem Begründer der englischen Pop-Art.

Wild gestikulieren, fröhlich tanzen

In Fortführung dieser Traditionen hat West ein Werk von großer Aktualität und internationalem Rang geschaffen. Sowohl seine künstlerischen Strategien als auch seine Materialien (Polyester, Papiermaschee, Harz sowie Schrott und Abfall der Konsumgesellschaft) sind durch und durch zeitgenössisch. Wests Werke sind in hoch angesehenen Sammlungen vertreten. Regelmäßig hat der Österreicher an wichtigen Kunstereignissen wie der documenta in Kassel teilgenommen, für die Biennale von Venedig gestaltete er 1992 den österreichischen Beitrag. Für das renommierte Festival Skulptur Projekte Münster schuf er 1987 seine erste Außenskulptur, der Anfang einer fortwährenden Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum. Eine Retrospektive von Wests Werken war also überfällig.

Im Museum Ludwig lädt er uns auch in jüngeren Werken, die er seit den 1990er-Jahren zusammen mit anderen Künstlern kreiert, zum Experimentieren ein – so in der zusammen mit Michelangelo Pistoletti (Begründer der italienischen Arte Povera) gestalteten Installation „Spiegel in Kabine mit Passstücken“ (1996), einem paraventartigen Kabinett, dessen Wände mit den Seiten einer lokalen Zeitung aktuellen Datums ausgeschmückt sind. Dort sollen wir, umgeben vom Wortmüll unserer Zeit, vor einem lebensgroßen Spiegel die Monstrosität unsere Neurosen mit Hilfe bereitgestellter Passstücke ausprobieren und dabei in wildem Gestikulieren ein fröhliches Tänzchen vollführen.

■ Bis 14. März, Museum Ludwig, Köln, Katalog (DuMont) 29,90 €