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Archiv-Artikel

bücher für randgruppen Reise durch ein Wohnzimmer: Ilse Kilic’ und Fritz Widhalms Verwicklungsroman „Zwischen Zwang und Zwischenfall“

jana macht pirouetten

naz im flugversuch ohne arme – die hat er nämlich am küchentisch liegengelassen (jana und naz beim morgentanz)

Mit zahlreichen Musik-, Text- und Kunstwerken haben Ilse Kilic und Fritz Widhalm im Laufe von zwei Jahrzehnten einen höchst eigenwilligen Kosmos geschaffen. Ihr Projekt schwebt aber nicht out of space, sondern liegt ganz entspannt im Wien von heute: In der Metropole ist „Das fröhliche Wohnzimmer“ zu Hause, ihr Kleinverlag, oder besser: ein unaufgeräumtes Wohnzimmer, in dem in jeder Ecke, in jeder Sofaritze und Fußleiste schöne, brisante oder fremdartige Überraschungen lauern und zutage gefördert werden können. Nun ist soeben die vierte Folge ihres vermutlich unendlichen Verwicklungsromans erschienen. Dieser wird geschmückt von Computerzeichnungen durch Hand und Maus von Günther Kaip: Computer-Art-brut. Die Hauptakteure des Romans sind der Naz und die Jana. Sie erschaffen sich selbst im Laufe der Handlung in eigenartiger Distanz und großer Nähe zugleich.

So entsteht eine Autobiografie, eine gemeinsame, vielleicht auch eine melancholisch einsame von zweien, die sich sehr nah sind. „Schmatz nicht!“, sagt die Jana, und der Naz schluckt rote Zwerge, LSD-Trips und anderes Teufelszeugs. Wir wollen alle anders sein als die anderen. Doch geht das überhaupt, und wenn, wie? Wo wir doch unsere Persönlichkeit mehr oder weniger zusammenkaufen: Kleider, Möbel, selbst Nahrung und Bücher.

Doch ab und zu erscheinen in dieser Welt des Standards und der Fertigprodukte Außerirdische, die uns Hoffnung machen. Zum Beispiel der zauberhafte Marc Bolan mit Wimperntusche, lila Federboa, Lockenkopf und sexy Stimme. Das weiß der Naz, das hilft ihm, auch wenn er die Welt schwarz-weiß sieht – keine Metapher, sondern Hinweis auf eine organisch bedingte Farbenblindheit. Naz lernt, dass die Nacktheit des Mannes im Spielfilm immer einen triftigen Grund zu haben hat – während die von Frauen völlig grundlos sein darf. Der Naz ist in Wirklichkeit der Ignaz, und der ist sein Alter Ego Fritz Widhalm. Die Jana ist tatsächlich die Jana Brenessel, und die ist die Kunstfigur Ilse Kilic.

Und dann tauchen Bilder aus ihren Erinnerungen auf: Jana findet sich wieder als kleines Jana-Mädchen auf der Wäschestange, mit einem roten Badeanzug aus Wolle. Den hat ihr die Jana-Mama gekauft. Er kratzt ganz furchtbar auf der Haut, saugt sich voll Wasser und trocknet sehr langsam. Naz dagegen liebt seine Nacktheit und auch die der anderen. Er freut sich und genießt es, wenn er nackt im Gras liegt und all die schlackernden Hoden, Pimmel, Brüste und Hintern betrachten kann. Ein roter Wollbadeanzug und die Liebe zur Kleiderlosigkeit treffen sich auf zärtliche, liebevolle, fast romantische Weise. Man könnte glauben, Jana und Naz lebten gemeinsam in einer Sprudelwelt. Die Sprudelwelt ist eine Welt, aus der die schönen Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Wörter nur so heraussprudeln und sich sanft an den Orten festsetzen, wo sie gerade hinperlen. Gelegentlich zutzelt es auch – auch wenn es das deutsche Rechtschreibprogramm nicht kennt und rot markiert: es zutzelt! Österreichisch für lispeln? Oder hat es doch was mit dem Auspellen von Weißwürsten zu tun? Egal, die Frage kann hier vorerst nicht geklärt werden.

Eigenes Erleben, die so genannte Wirklichkeit ent- und verwickeln sich mit der Imagination und umgekehrt. Und wie dieser Roman so zwischen Erinnerung und Gegenwart pendelt, taucht ein Wahrsager auf und damit auch die Zukunft in Person. Er prophezeit dem Naz eine Lebensdauer von 87 Jahren, worauf dieser im Hier und Jetzt hofft, das spätestens mit 86 Jahren vergessen zu haben. Irgendwie ist das Werk natürlich ein Liebesroman, wenn auch ganz anders als die anderen. WOLFGANG MÜLLER

Ilse Kilic, Fritz Widhalm: „Zwischen Zwang und Zwischenfall. Des Verwicklungsromans vierter Teil“. edition ch, Wien 2005, 100 Seiten, 12 Euro