Montagsinterview Geldloser Raphael Fellmer: "Geld ist nur auf den ersten Blick eine Vereinfachung"

Raphael Fellmer lebt seit zwei Jahren im Geldstreik - und ist überzeugt: Mit ein bisschen Vertrauen könnte jeder von uns so leben.

Raphael Fellmer im Garten des Niemöller-Haus in Dahlem. Bild: Pierro Chiussi

taz: Herr Fellmer, unser Aufnahmegerät hängt jetzt an Ihrer Steckdose. Sie leben ohne Geld. Wer bezahlt dann den Strom?

Raphael Fellmer: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Meine Familie und ich sind froh, hier im Martin-Niemöller-Haus in Dahlem zu leben und uns einbringen zu können. Dass ich mit Rechnungen nichts mehr zu tun habe, ist ein Vorteil des Geldstreiks. Mein Kopf ist frei für das Wesentliche.

Sie leben komplett ohne Geld. Was ist denn so schlecht an diesem praktischen Tauschmittel?

Der Mensch: Raphael Fellmer, Jahrgang 1983, träumt als Jugendlicher davon, ein Auslandsschuljahr in Lateinamerika zu verbringen. Das scheitert am fehlenden Geld - er bleibt zu Hause in Charlottenburg und Zehlendorf. Erst nach dem Abitur kann er seinen Traum erfüllen. Er leistet einen Freiwilligendienst an einer Waldorfschule in Mexiko. Anschließend reist Fellmer durch Lateinamerika, Asien sowie Europa und studiert dann European Studies in Den Haag. Heute lebt er mit seiner Freundin und seiner einjährigen Tochter in Dahlem.

Die Idee: 2010 beginnt Fellmer eine Reise nach Mexiko - per Anhalter über Land und Meer. Weil das so gut klappt, beschließt er, in Zukunft vollständig auf die Verwendung von Geld zu verzichten.

Das Leben: 15 Monate ist er insgesamt unterwegs und lernt dabei seine Freundin kennen, die kurz darauf schwanger wird. Zusammen kehren sie nach Berlin zurück - auf den Notsitzen eines Flugzeugs: Die hatte ihnen ein Pilot über die Internetplattform Couchsurfing besorgt. Heute lebt die Familie in einem Haus der evangelischen Kirche in Dahlem, ohne Geld. Von einem Biodiscounter erhalten sie überschüssige Lebensmittel. Raphael Fellmer bloggt unter de.forwardtherevolution.net.

Alle Gedanken, die mit Geld verbunden sind, lähmen. Es macht die Beziehung zu Mitmenschen und zu sich selbst kaputt. Wir sind konditioniert, Leistung zu bringen, um Rechnungen bezahlen zu können. So kann niemand wahrhafte Begeisterung für einen Bereich im Leben ausleben.

Welche Begeisterung haben Sie denn heute schon ausgelebt?

Ich bin früh aufgestanden, wie immer. Bevor meine kleine Tochter aufgewacht ist, habe ich Artikel für mein Blog geschrieben. Dann haben wir gefrühstückt und sind spazieren gegangen. Dabei haben wir Plakate für einen Vortrag über mein Leben ohne Geld geklebt.

Und die Erde an Ihren Fingern?

Ich war gerade noch im Garten und habe Unkraut gejätet. Wir beteiligen uns hier im Haus, wo wir können, machen sauber, helfen beim Renovieren und bei der Koordination der Seminargruppen, die hierherkommen.

Sie bezahlen Ihre Miete also nicht in Geld, sondern in Arbeit.

Nein, das haben Sie falsch verstanden. Es geht nicht um Austausch. Ich gebe einem anderen kostenlos etwas, weil wir in einer Gemeinschaft leben, in der jeder von dem gibt, was ihm am meisten Freude bereitet.

Für viele ist das eine Spinnerei.

Man muss ein wenig Vertrauen haben, dass die Gesellschaft ohne die Vereinfachung durch Geld funktionieren kann. Es ist ja nur auf den ersten Blick eine Vereinfachung. Viele Menschen sagen: Ich würde so gern dieses oder jenes tun, aber ich habe kein Geld dafür. Es fehlt von Anfang an der Gedanke, dass sich der Wunsch vielleicht anders erfüllen ließe.

Wenn Sie sich nun wünschen, von Dahlem nach Hohenschönhausen zu fahren: Wie machen Sie das ohne Geld für ein Ticket?

Mit dem Fahrrad.

Und wenn das geklaut wird?

Dann ist das eben so. Ich schließe mein Rad eigentlich nie ab. Es gibt in Deutschland mehr Fahrräder als Menschen, da werde ich schon ein anderes finden, das mir ein Mensch mit Liebe gibt.

Aber mit der U-Bahn fahren Sie schon ab und an?

Einmal, vor zwei Jahren, bin ich mit einer Freundin mitgefahren. Sie ist behindert und hat deshalb ein Ticket, mit der sie einen Begleiter mitnehmen kann.

Gut, Sie sind kein Schwarzfahrer. Aber sie begehen Diebstahl: Sie containern Lebensmittel.

Ich nenne das nicht Containern, das klingt ein bisschen schmuddelig. Ich sage: Lebensmittel retten. Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, unnütz weggeworfene Lebensmittel aus der Supermarkt-Tonne zu holen. Ich muss nichts Neues kaufen, und mein ökologischer Fußabdruck wird kleiner. Außerdem hole ich längst nicht mehr alles aus der Tonne.

Sondern?

Ich habe irgendwann gemerkt, dass es so nichts bringt. Denn es geht beim Geldstreik darum, wie wir als Gesellschaft insgesamt Umweltschäden minimieren. Ich habe Biosupermärkte angeschrieben, der Chef der Bio Company hat als Einziger geantwortet. Seitdem stellen die Mitarbeiter alle Lebensmittel für mich bereit, die sie nicht verkaufen oder selbst mitnehmen. Ich hole sie ab, verwende sie selbst und verteile sie an Freunde und Hilfsbedürftige. Und ich berate das Unternehmen, wie es seine Müllproduktion weiter senken kann.

Halten Sie Vorträge in Filialen?

Nein, ich führe viele direkte Gespräche mit Mitarbeitern, etwa hier in der Zehlendorfer Filiale und auch mit dem Chef des Gesamtunternehmens.

Was hat der Berater Raphael Fellmer denn schon erreicht?

Es fängt klein an. Bei der Bio Company wird der Müll inzwischen konsequenter getrennt. Ich will aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir eigentlich überhaupt gar keinen Müll mehr produzieren dürften. Und noch einen Schritt weiter: dass nicht jeder von uns sein eigenes Fahrrad, sein eigenes Auto und sein eigenes Aufnahmegerät braucht.

Haben Sie als Kind eigentlich Taschengeld bekommen?

Nein.

Warum nicht?

Meine Eltern hatten nicht viel Geld und noch dazu Schulden. Mein Vater war zwar Architekt, und es gab Zeiten, in denen es gut lief. Aber manchmal wusste meine Mutter nicht, ob sie klauen muss, um an Essen zu kommen.

Das klingt hart.

Nein, es war schon in Ordnung. Letztlich haben wir nie gehungert, sondern dreimal am Tag zusammen gegessen. Geld ist nicht so wichtig, solange Eltern für ihre Kinder da sind.

Wo sind Sie groß geworden?

Zunächst in Charlottenburg, am Ku’damm.

Wo das Geld zu Hause ist.

Nein, nur in der Nähe davon. Als ich 13 war, sind wir in die Onkel-Tom-Siedlung in Zehlendorf gezogen. Direkt am Wald, mit vielen Kindern in der Nachbarschaft. Das war sehr schön. Ich hatte sehr viel Glück, dass ich in einer Familie groß geworden bin, die als Einheit funktioniert hat, und in der es gegenseitige Aufmerksamkeit und Liebe gab.

Trotzdem ärgert sich ein Kind doch, wenn es kein Taschengeld bekommt wie seine Freunde.

Ich habe mit zwölf angefangen, mein eigenes Geld zu verdienen, habe geputzt, Gartenarbeit gemacht, Internetseiten entworfen und Computerkurse für ältere Leute gegeben. Ich habe sogar einmal mit einigen Freunden bei einem Projekt der Gemeinde mitgemacht und eine Junioren-GmbH gegründet, wir haben Softwarereparaturen angeboten und Ähnliches. Aber das ist schnell im Sande verlaufen.

Wofür haben Sie damals Ihr Geld ausgegeben?

Das meiste habe ich gespart. Es gab aber auch eine Phase, in der ich ein-, zweimal die Woche zu McDonald’s gegangen bin, mit meiner Get-two-Karte: Ich musste ein Menü bezahlen und bekam zwei Menüs. Mit 18 habe ich das Reisen für mich entdeckt. Da hatte ich dann eine große Leidenschaft, für die ich mein Geld ausgeben konnte.

Heute machen Sie ohne Geld Urlaub.

Vor acht Jahren habe ich mit zwei Freunden eine ökologische Reise versucht. Wir sind zunächst nach Marokko getrampt. Dann haben wir im Segelboot den Atlantik überquert und sind …

Moment. Woher hatten Sie denn das Boot?

Wir haben zwei reiche Männer mit einem Boot kennengelernt. Eigentlich haben die zwei Mädels als Crew gesucht. Für ihre Überfahrt nach Brasilien. Obwohl wir auf die wie drei ziemlich straffe Hippies gewirkt haben müssen, haben sie uns mitgenommen.

Hat Ihnen das leichte Leben eines reichen Mannes mit eigener Jacht nicht gefallen?

Na ja. Es ist schon interessant, wie Menschen ticken, die eine Glocke läuten, und einer bringt das Essen. Und bei uns entwickelte sich ja gerade erst der Plan, nicht nur ökologisch, sondern ganz ohne Geld zu reisen. Nach der Überfahrt stand bei einem meiner Freunde und mir der Entschluss fest: Wir reisen nicht nur, wir leben künftig ohne Geld.

Und der Dritte im Bunde?

Er wollte noch Geld benutzen, wenn auch wenig. Deshalb war ihm unser Entschluss ein bisschen zu viel. Wir waren ja erst nach fünf Monaten in Brasilien, bis zu unserem Ziel Mexiko war es noch ein weiter Weg. Auf den haben wir uns dann zu zweit gemacht, unser Freund ist wieder nach Europa gegangen.

Sind Sie noch befreundet?

Natürlich. Es wäre ja schade, wenn wir es nicht mehr wären – wegen des Geldes. Der andere ist übrigens gerade auf dem Rückweg von Mexiko – ohne Geld.

Und Sie haben wieder einen reichen Segler begleitet?

Nein, ich kam in Kontakt mit einem Piloten, der mir einen Notsitz in einem Flugzeug für umsonst besorgen konnte.

Was sagen eigentlich Ihre Eltern zu Ihrer heutigen Lebensweise?

Auf die hat vieles von dem, was ich tue, eine positive Wirkung. Zum Beispiel meine vegane Ernährung: Meine Mutter ist diesen Weg auch in Schritten gegangen und ernährt sich jetzt schon zu 90 Prozent vegan. Meinem Vater fällt es noch ein bisschen schwer.

Was?

Ein Zugeständnis zu machen. Zu sagen: Hey, mein Sohn hat etwas gemacht, und ich konnte davon lernen. Aber das fällt ja überhaupt vielen Menschen schwer.

Streikt Ihre Freundin mit?

Ja, aber sie ist da flexibler. Sie hat vorher gearbeitet und Geld gespart und kann sich jetzt auch mal einen Labello kaufen, wenn sie den braucht. Das ist völlig in Ordnung für mich, sie muss das nicht so extrem leben wie ich.

Sie haben eine kleine Tochter. Sind Sie krankenversichert?

Ja, wir bezahlen vom Kindergeld die Familienversicherung für uns drei. Ich habe nächste Woche sogar einen Zahnarzttermin.

Dort zücken Sie die Krankenkassenkarte, um zu bezahlen.

Ach, wir haben neulich auch der Frauenärztin meiner Freundin beim Malern und der Gartenarbeit geholfen. Viele Menschen sind wahnsinnig interessiert, wenn sie von unserer Lebensweise erfahren. Darum lernen wir auch so viele unterschiedliche Leute kennen.

Ihnen begegnet aber bestimmt auch Misstrauen.

Sehr selten. Manchmal treffe ich Menschen, die 30 Jahre für eine Welt ohne Waffen gekämpft haben. Und dann kommt so ein Waldorf-Schüler, der ihnen etwas von der heilen Welt erzählt, in der sie vegan leben sollen.

Das kommt denen dann sehr bekannt vor.

Ja, und natürlich sagen dann einige: Glaub bloß nicht, dass deine Vision jemals Wirklichkeit wird. Bei mir hat es nicht geklappt, bei dir wird es auch nicht klappen. Aber meist reagieren die Leute völlig positiv.

Zum Beispiel?

Neulich waren wir im Kino. Wir haben dem Chef erklärt, dass wir ohne Geld leben, und dann gefragt, ob wir nicht in einen Film gehen können, wo eh noch Plätze frei sind. Cooles Projekt, hat er gesagt und uns freundlich in einen Saal geschickt.

Was tun Sie noch, um zu einer Welt ohne Geld zu gelangen?

Wir wollen eine Internet-Plattform schaffen, die alle Netzwerke vereint: Foodsharing, Carsharing, Couchsurfing, Skillsharing, Landsharing, und was es noch so alles gibt. Wir brauchen nicht Tausende Tauschnetzwerke, sondern etwas Einheitliches.

Das klingt aber wieder nach einem Tauschnetzwerk, einem allumfassenden eben.

Nein, es soll nicht auf Tauschebene funktionieren, sondern ohne Gegenleistung. Einfach ein freies Geben und Nehmen.

Wie soll das ohne Geld gehen?

Wir brauchen kein Geld beschaffen, um damit die Menschen zu bezahlen. Wir gehen direkt auf Programmierer, Übersetzer und Koordinatoren zu. Ohne den Umweg übers Geld. Die Leute machen mit, weil sie etwas Gutes für sich, die Gemeinschaft und die Umwelt tun wollen.

Bis jetzt nutzen Sie doch aber nur die Verschwendung derjenigen aus, die vom Geld leben.

Ja, wir nutzen das System aus, das die Erde ausnutzt. Aber der folgende Schritt ist dann natürlich die Community. Wir wollen nächstes Jahr nach Italien auf einen Hof oder in ein verlassenes Dorf ziehen. Wir brauchen einfach nur ein Grundstück und machen dann alles selber. Holen uns Spezialisten, die Ahnung haben von Permakultur, Lehmbau, Solarkollektoren, Biogasanlagen.

Die Zahl verlassener italienischer Dörfer ist begrenzt. Ist das nicht doch ein sehr individueller Aussteigertraum?

Nein, für mich ist das eine kollektive Vision. Ich glaube, die Urbanisierung erreicht bald ihren Höhepunkt. Ich kenne viele Leute, die es schön in Berlin finden, aber jetzt wieder aufs Land wollen. So wie wir heute leben, bräuchten wir drei oder vier Planeten. Unser aktuelles System ist auf keinen Fall länger tragbar.

Wie wäre es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen?

Ich war mal ein ganz starker Befürworter davon. Denn der Ansatz ist ganz wichtig: Wir haben Vertrauen, dass jeder ein sinnvoller Teil der Gesellschaft ist und eine Aufgabe hat. Das geht dann auch ohne die Krücke Geld. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nur eine Etappe zu einer Welt, wo jeder ohne Erwartung seine Qualitäten hineingibt und seine Berufung lebt. Wer etwa aus Leidenschaft Bier braut, der gibt das Bier aus.

Und wenn wir Sie jetzt auf ein Bier einladen würden?

Das würde ich nicht annehmen. Ich trinke keinen Alkohol.

Und wenn der Wirt Ihnen sein Bier aus vollster Leidenschaft und ohne Erwartung einer Gegenleistung hinstellen würde?

Also, manchmal gibt es gar keine andere Möglichkeit, weil der Anlass so besonders ist oder die Leute nicht verstehen, dass ich eine Einladung ausschlagen will. Ich würde fragen, ob ich Leitungswasser haben kann. Etwa einmal im Jahr mache ich aber auch eine Ausnahme: Dann trinke ich ein alkoholfreies Bier.

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