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Archiv-Artikel

Vergesst das BIP

ÖKOLOGIE Alle reden noch immer übers Bruttoinlandsprodukt und dass Wachstum die falsche Kategorie ist. Dabei ist es längst nicht mehr so wichtig

Die Autoren 

■ Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und auch sachverständiges Mitglied der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.

■ Der Politikwissenschaftler Martin Kroh ist Professor an der Humboldt-Universität Berlin und im DIW Berlin tätig.

■ Roland Schatz ist Gründer und Leiter des internationalen Medienforschungsinstituts Media Tenor (Zürich).

Der Deutsche Bundestag hat Ende 2010 eine Studienkommission („Enquetekommission“) eingerichtet, die den Auftrag hatte im Hinblick auf die Messung von „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eine Alternative zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu entwickeln. Erhofft wurde von vielen ein Automatismus, der wissenschaftliche Erkenntnisse in Form von Statistiken in ein ganz bestimmtes sozialökologisches politisches Handeln umsetzt. Ein von vornherein naiver und im Grunde undemokratischer Wunsch.

Das BIP ist nicht der Feind

Die Enquete hat nun einen Katalog von „Indikatoren“ vorgeschlagen, der das BIP in den drei Bereichen „Wirtschaft“, „Soziales und Teilhabe“ und „Ökologie“ um neun statistische Kennziffern ergänzen soll. Darüber sind alle enttäuscht, die das BIP abgeschafft wissen wollten. Und das sind viele. Übersehen wird dabei, dass man zwar mathematisch gesehen wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele und Statistiken „auf einen Nenner“ bringen kann, dann aber viele Menschen diese Zahl nicht akzeptieren werden. Denn verschiedene Menschen verfolgen unterschiedliche Ziele und deswegen lehnt die Enquete – einstimmig – einen einzigen alternativen Indikator ab.

In der Öffentlichkeit wird auch nicht gesehen, dass es ziemlich sinnlos ist, sich nur am BIP als Feindbild abzuarbeiten. Dieses hat in politischen Debatten ja bereits dramatisch an Bedeutung verloren.

Und das ist das Problem. Zwar wird im Anschluss an Katastrophen wie Fukushima oder BP-Oilspill immer wieder eine Politikwende gefordert – in der Bevölkerung und von den Volksvertretern –, aber sobald die Schlagzeilen verschwinden, verliert die Ökologie an Bedeutung.

Deswegen ist die eigentliche Frage: Wie kann man ökologische Nachhaltigkeit – an der sich das Schicksal der Menschheit entscheidet – zu einer nicht ignorierbaren Zieldimension der Gesellschaft machen?

Eine repräsentative Untersuchung bei Bundestags- und Landtagsabgeordneten und Kommunalpolitikern, die die Enquetekommission hat durchführen lassen, zeigt, dass Beschäftigungspolitik und finanzielle Nachhaltigkeit des Staates bei Politikern ganz oben auf der Agenda stehen und das BIP nicht mehr zentral ist. Ökologische Ziele finden sich ganz unten auf der Liste – noch niedriger gelegen als in der Bevölkerung.

Auch viele in der Wirtschaft halten ökologische Fragen für irrelevant. Die an der Spitze der Erwerbseinkommen Stehenden machen sich überdurchschnittliche Sorgen um die Finanzmärkte und unterdurchschnittliche Sorgen um die Umwelt im Allgemeinen und Klimaschutz im Besonderen.

Bei Großkonzernen, die ja auch politisch einflussreich sind, täuschen aufwendige Imageanzeigen und Reden auf Kongressen darüber hinweg, dass „Sustainability“ im realen Alltag praktisch gar keine Rolle spielt.

Liest man die Geschäftsberichte, also die Dokumente, die justiziable Rechenschaft über das ablegen, was im vergangenen Jahr getan wurde und was in Zukunft getan wird, dann fällt auf, dass Aufsichtsratschefs, Vorstandschefs oder auch Finanzvorstände Nachhaltigkeitsthemen praktisch nicht erwähnen.

Wissenschaftliche Beratung

Im Grunde war schon zu Beginn der Enquetekommission klar, dass Statistiken und Indikatoren nur äußerst begrenzte Wirksamkeit entfalten werden. Das BIP ist ja nur noch insofern wichtig, wie es in aller Munde ist. Der „ökologische Fußabdruck“ über den „Human Development Index“ bis hin zum „Wohlstands-Quintett“: Sie alle werden indessen vom Mainstream der Politik, der Wirtschaft und den Medien im Grunde ignoriert.

Die Frage ist also: Wie kann „ökologische Nachhaltigkeit“ auf dieselbe Ebene der politischen Relevanz gehoben werden wie „Wirtschaft“ und „Soziales und Teilhabe“? Die Antwort sucht die Enquete jenseits von Statistiken, nämlich im Bereich der wissenschaftlichen Beratung von Bundestag und Regierung.

Regierung muss sich äußern

Wer die Jahresberichte der Wirtschaft liest, stellt fest: Ökologie kommt so gut wie nie vor. Das ist wirklich ein Problem

Der wohl wichtigste Vorschlag ist die Empfehlung der Enquete, dass die Bundesregierung künftig zum BIP und den vorgeschlagenen neun Indikatoren jenseits des BIP einmal im Jahr in konsistenter Weise Stellung nehmen soll. Dass also nicht mehr im „Jahreswirtschaftsbericht“ zum Wachstum, ein Jahr später zum Sozialen, kurz danach zur Teilhabe und am Ende der Legislaturperiode endlich zur Ökologie Stellung genommen wird.

Alle Indikatoren sollten von sachverständigen Gremien öffentlich diskutiert werden, bevor sich dann die Regierung äußert. Deswegen empfiehlt die Enquete, dass das unübersichtliche Feld aus Sachverständigenräten, Beiräten und Regierungsberichten auf den Prüfstand gestellt wird.

Nach Überzeugung vieler sollte nicht ein einziger „Super-Sachverständigenrat“ geschaffen werden, der die drei zentralen Politikbereiche „Wachstum“, „Soziales und Teilhabe“ und „Ökologie“ gemeinsam in den Blick nimmt. Stattdessen müssten eigenständige Sachverständigenräte alle drei Bereiche in der Öffentlichkeit präsent machen. Zielkonflikte würden damit nicht mehr verschleiert. Zu den vorhandenen Sachverständigenräten für Wirtschaft und Umwelt sollte – so sind etliche auch in der Enquete überzeugt – ein neuer Rat hinzukommen: ein Fachgremium für nachhaltige Lebensqualität (der den Bereich „Soziales und Teilhabe“ abdeckt). Es könnte dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder dem Kanzleramt zugeordnet werden.

Es gibt durchaus Chancen, dass die Vorschläge der Enquete umgesetzt werden. Dafür sorgt nicht zuletzt der Streit um den Armuts- und Reichtumsbericht. Dabei wird deutlich, dass Regierungsberichte Sachverständigenräte nicht ersetzen können. Aber ein Regierungsbericht als Antwort auf Aussagen von Sachverständigen ist politisch sicherlich sinnvoll. Das unterstreicht: Neue statistische Indikatoren bewirken nur etwas, wenn sie in politische Strukturen eingebettet werden, die ihnen quasi automatisch Jahr für Jahr Beachtung verschaffen. Damit wird die Welt natürlich nicht schlagartig besser – das würde einem „Anti-BIP“ aber auch nicht gelingen.

GERT G. WAGNER, MARTIN KROH, ROLAND SCHATZ