Das Stottern des Apparates

Neue Rauschmittel für das Theater: Mit „Grete“ aus ihrer „Trilogie klassischer Mädchen“ ist die Regisseurin Anja Gronau jetzt zum zweiten Mal zum Festival freier Theater „Impulse“ eingeladen. Ihr Konzept des „Low-Tech-Theaters“ setzt auf den Charme des Angerissenen, Unfertigen, Improvisierten

„Adoption“ nennt die Gronau ihr Verfahren, klassischen Figuren Texte aufzupfropfenEine „Trilogie der klassischen Jungs“ kann sich Gronau auch vorstellen

VON CHRISTINE WAHL

Keine Frage: Diese junge Frau ist schwer verliebt! Von nachgerade unerschöpflichen Energieschüben getragen, wirbelt die wunderbare Schauspielerin Claudia Wiedemer über die Bühne. Und da es sich beim Angebeteten um einen der raren Zeitgenossen handelt, die auch durch Eloquenz verführen können, jubiliert sie seine formvollendeten Sätze zwischen Bett und Küche immer wieder vor sich hin: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“

Später berauscht sie sich an einem Kassettenrekorder, aus dem noch mehr geschliffene Goethe-Verse tönen. Denn bei dem verliebten Teenager handelt es sich – man mag es angesichts der frommen Spinnradseligkeit des Originals kaum glauben – um das Faustische Gretchen. Anja Gronau hat aus Goethes Klassiker ein Theatersolo destilliert, das Margaretes Geschichte absolut stimmig als heutiges Drama erzählt. „Adoption“ nennt die Regisseurin ihr Verfahren, klassischen Sentenzen und Figuren behutsam, aber entschlossen eigene, zeitgemäße Texte aufzupfropfen. Ein Kunststück nicht nur angesichts der Fallhöhe, die der gemeine Goethe-Vers so mit sich bringt.

Im Rahmen des Festivals „Impulse“ tourt die Produktion zurzeit durch das Ruhrgebiet: Mülheim, Bochum und Düsseldorf. Bei dieser großen Leistungsschau des freien Theaters war Anja Gronau bereits im letzten Jahr vertreten. Zu Recht. Denn „Grete“ ist kein Einzelfall, sondern das Finale einer ganzen Serie, der wunderbaren „Trilogie der klassischen Mädchen“. Schon Heinrich von Kleists Drama „Käthchen von Heilbronn“ und Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“ hatten Gronau und Wiedemer in kongenialen Jungmädchenzimmerschlachten auf ihre Gegenwartstauglichkeit abgeklopft.

Schuld daran sind übrigens ein paar laxe Exkommilitonen: Vor sieben Jahren, als Anja Gronau in Hamburg Regie studierte, hatte sie sich das „Käthchen“ im großen Stil vorgenommen. Einer der angeheuerten Schauspieler musste dann regelmäßig zu Hause abgeholt werden, weil er leider ständig vergaß, zu den Proben zu kommen; zwei andere stritten sich unaufhörlich, und irgendwann saß die Regisseurin mit einer jungen Schauspielerin namens Claudia Wiedemer allein da: ohne Geld, ohne Stab, aber mit dem festen Willen, das „Käthchen“ durchzuziehen. Schließlich stand der Premierentermin schon fest.

Im Berliner Theater unterm Dach ist die Hamburger Produktion nun so erfolgreich wieder auferstanden, dass Schlag auf Schlag die weiteren „klassischen Mädchen“ folgten. Eine Rehabilitation der Frauenfiguren, die gegenüber den Männern im dramatischen Kanon gern etwas unterbelichtet und eindimensional daherkommen? „Nö“, sagt Anja Gronau über ihrem Latte Macchiato in einem Café in Berlin-Friedrichshain lässig. „Wir haben auch schon über eine ‚Trilogie der klassischen Jungs‘ gescherzt.“ Es reize sie grundsätzlich, Figuren mit einer gewissen Unschärfe – Charakteren, die im Stück „nicht den gebührenden Rahmen bekommen – ein ganz eigenes Sprachrohr zu geben“. Oder sie von einer bislang unterrepräsentierten Seite zu zeigen.

Für ihr jüngstes Projekt „Leni – Eine Riefenstahl-Subjektive“ hat die 37-Jährige beispielsweise monatelang Interviews, Biografien, Memoiren und filmtheoretische Kommentare gewälzt, um hinter der vielfach ausgeleuchteten NS-Propagandafilmregisseurin den Menschen Leni Riefenstahl „zu verlebendigen“. Gronau hat sich gefragt, „wie das sein muss, wenn man sein Leben lang immer wieder auf dasselbe festgenagelt und irgendwann fast zu einem Antwortenautomaten wird“, dessen Auskünfte im Laufe der Zeit immer abstrakter scheinen. Herausgekommen ist ein Abend, der keine neuen Eindeutigkeiten behauptet, sondern den Raum vielmehr für verschiedene Perspektiven weitet.

Anja Gronau hat den Text, den sie mit ihrem künstlerischen Mitstreiter Marcel Luxinger während der Proben entwickelt hat, auf drei Darstellerinnen verteilt: die Stehauffrau, die mit einer nachgerade penetranten Energie ständig vorwärts treibt; die Verträumte, die sich weltfremd in ihrer Kunst verliert; und die Reflektierende, die mit der politischen Perspektive die Schuldfrage ins Spiel bringt. Inhaltlich erzählt „Leni“ zwar nicht viel Neues. Aber das Material wird gleichsam neu geordnet: Die drei Figuren überlagern, kommentieren und dekonstruieren sich gegenseitig mit einer Präzision und dramaturgischen Intelligenz, die man gerne öfters im Theater sähe.

Umso verwunderlicher, dass Anja Gronau – wenn sie nächstes Jahr am Stadt- beziehungsweise Staatstheater von Halle bis Stuttgart inszeniert – erstmals ernsthaft außerhalb der freien Szene arbeiten wird. „Meine Produktionen“, erklärt Gronau, „haben immer den Charme des Angerissenen, Unfertigen, Improvisierten. Das ist sehr schwierig aufs Staatstheater zu übertragen.“ Die Regisseurin spielt damit auf ihr „Low-Tech-Theater“ an, das mittlerweile so etwas wie ihr Markenzeichen geworden ist. Statt perfektionierter Bilder und aalglatter Sounds, die von außen – aus dem Off – in die Bühnenästhetik hineingetragen werden, spielen bei ihr stets vom Schauspieler selbst zu bedienende Gerätschaften der vorletzten Generation eine wichtige Rolle: Plattenspieler, Diaprojektoren oder Kassettenrekorder, die bisweilen ausfallen und zu gewagten Improvisationen herausfordern.

Es sind aber nicht nur die unberechenbaren Apparaturen, die Gronaus Arbeitsweise vom Stadt- und Staatstheaterbetrieb unterscheiden. „Mein Wunsch ist“, erklärt die Regisseurin, „dass sich in den ersten beiden Probenwochen jeder richtig voll stopft mit dem Thema; im Idealfall das ganze Team inklusive Hospitanz, Assistenz et cetera.“ Ist diese „Ursuppe angelegt“, wird improvisiert, verworfen, neu gedacht: ein kreativer Langzeitprozess, der unter den Zwängen der Stadt- und Staatstheaterproduktion kaum machbar ist. Die erste diesbezügliche Erfahrung nach dem Studium – Anja Gronau will sich dazu gar nicht detaillierter äußern – sei jedenfalls gründlich schief gegangen.

Jetzt – erfahrener und gewappneter – freue sie sich auf die neuen Herausforderungen. Eines allerdings werden wir auch künftig von Anja Gronau nicht zu sehen bekommen: „So richtig ordentliches Stadttheater, wo die Leute ganz sauber ihren Text aufsagen“ und man vor lauter Belanglosigkeit bedauert, dass man seinen Goethe nicht einfach still zu Hause gelesen hat.

„Grete“ bei „Impulse“: 4.12. Mülheim, Ringlokschuppen; 6./7.12. Bochum, Prinzregententheater; 8.12. Düsseldorf, Forum Freies Theater