: Und ewig nervt die Zivilgesellschaft
Schriften zu Zeitschriften: „Vorgänge“ will die „Rückkehr der Bürgerlichkeit“. Also: kein Bier mehr auf der Straße?
An welcher Wohnzimmerschrankwand können sich heutzutage noch antibürgerliche Affekte austoben? Und auf welchem dialektischen Stand der Selbstwahrnehmung bewegt man sich dabei? In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge wird die „Rückkehr der Bürgerlichkeit“ ausgerufen. In der BRD, heißt es in den Beiträgen fast unisono, seien schon immer alle Menschen Bürger gewesen. Vielleicht ohne es zu merken. Wer also Bürgerlichkeit allein als eine Frage von feinen Unterschieden oder wechselhaften Lebensstilen betrachtet, wird hier schnell eines anderen belehrt: Wen wundert’s, aber in der aktuellen Debatte interessiert vor allem, ob sich Bürgerlichkeit besser als die Freiheit vom Staat oder durch den Staat leben lässt. Reale gesellschaftliche Konflikte sind unter der Kategorie der Bürgerlichkeit dagegen kaum noch zu fassen.
So erstaunt sich der Berliner Politologe Jens Hacke über „die pejorativ-disqualifizierende Komponente“, die Bürgerlichkeit lange Zeit zu einem „politischen Kampfbegriff“ gemacht habe. Schließlich habe doch schon in der Nachkriegszeit ein konservativer Soziologe wie Helmut Schelsky die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ausgerufen, eine, so Hacke, „uniforme Kultur des Konsums, des Profitdenkens und des marktgesteuerten bzw. staatlich abgefederten Wohlfahrtsstrebens“.
Unbegreiflich für Hacke, „mit welcher Vehemenz die Neue Linke gegen all das Bürgerliche ankämpfte, das ja eigentlich schon zu Grabe getragen worden war“. Heutzutage habe sich die Sozialphilosophie, trotz oder wegen aller sozialen Krisenhaftigkeit, längst wieder dem affirmativen Standpunkt der Liberalkonservativen angenähert.
Einen offenbar zeitgemäßen Weg zum bürgerlichen Selbstverständnis findet Hacke bei dem konservativen Münsteraner Philosophen Joachim Ritter (1903–1974). Ritter habe seine Vorstellung von liberaler Bürgerlichkeit bis zur antiken Polis zurückverfolgt. Hacke zitiert ihn ausführlich: „Die politische Freiheit ist kein Selbstzweck, sondern Bedingung für das private Glück eines gelingenden Lebens […] diese Freiheit besteht im Selbstseinkönnen derjenigen, die frei sind.“ Unschwer erkennt man darin eine noch posthum wirkende Spitze: Denn kann man unter der Prämisse, dass das Private politisch ist, überhaupt man selbst sein? Es sei eben, meint Hacke, „ein weiter Weg zur bürgerlichen Selbstakzeptanz der bundesrepublikanischen Linken“ gewesen.
Der Historiker Jens Nordalm bezeichnet Bürgerlichkeit daher auch als einen nicht totzukriegenden persönlichen Habitus: „Das Auf und Ab der Diskurse und Diagnosen berührt einen Menschentyp nicht, der unter den Bedingungen der modernen Welt ein selbst gestaltetes und frei geordnetes Leben führen will.“ Das hätten sogar die 68er praktiziert und trotz anders lautender Parolen.
Möglich sei Bürgerlichkeit also auch heute: „Single-Dasein und Kinderlosigkeit oder prekäre Arbeitsbiographien und Geldeinbußen machen nicht aus einem Bürger einen Nicht-Bürger, sondern aus einem vielleicht glücklichen einen unglücklichen Bürger.“ Für Nordalm alles kein Anlass zum Kulturpessimismus, denn „auf Menschlichkeit und Moral im relevanten Nahraum darf man noch immer vertrauen“. Wieso eigentlich? Aber jetzt hat man ihn zumindest verstanden: Kulturkritik ist das törichte Unterfangen, die moralischen Ansprüche aus dem persönlichen Nahraum auf die ganze Gesellschaft ausdehnen zu wollen; Bürgerlichkeit ist das glatte Gegenteil davon.
Auch Ralf Dahrendorf preist im Interview die staatsferne Zivilgesellschaft, die sich durch „Bürgerselbstbewusstsein“ und „Bürgerselbsttätigkeit“ begründe. Doch Dahrendorf reflektiert auch die Probleme sozialer Spaltung: „Die Aktiven und Selbständigen monopolisieren allmählich alles.“ Welche Perspektiven könne man den anderen bieten? – laut Dahrendorf also „denen, die mit der Bierflasche rumhängen“. Hier müsse kurzerhand eben doch der Staat als Repressionsinstanz aushelfen: „Selbst ich als Liberaler würde das öffentliche Trinken verbieten.“
Der Hamburger Politologe Michael Th. Greven meint dagegen, dass der Mensch „zur Verwirklichung seines Wesens als ,Bürger‘ einer bestimmten Verfassung des Gemeinwesens bedürfe, die es nicht immer und überall“ gebe: einer „Vereinbarung zwischen Menschen, die sich als Gleichberechtigte anerkennen und die sich nur selbst beschlossenen Gesetzen oder von ihnen bestimmten Amtsinhabern unterwerfen“.
Zivilgesellschaft bestehe eben aus einer Vielzahl von Einzelinteressen. Von daher müsse man auch nicht jede Bürgerinitiative und jeden privatwirtschaftlich inszenierten PR-Gag als Zeichen des republikanischen Bürgergeistes in den Himmel loben, sondern nur jenes Engagement, das „sich direkt auf die Republik, auf den Erhalt ihres freiheitlichen Charakters und die Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen gründet.“
JAN-HENDRIK WULF
„Vorgänge“ 170 (2005), 12 Euro