: Verspätung? Schön, da dauert’s länger
Behinderte mit Ausweis reisen auf den meisten Nahverkehrsstrecken der Bahn gratis. Zugfahren kann da zum prima Hobby werden
VON KERSTIN SPECKNER
Ingo Heutzenröder liebt die Bahn. Häufiges Umsteigen, Wartezeiten auf dem Bahnhof und ständige Verspätungen – was für die meisten ein notwendiges Übel, ist für Ingo Spaß. Außerplanmäßigkeiten wie Gleisarbeiten oder Streckenschließungen machen Bahnfahren für ihn erst richtig spannend. Ankommen ist Nebensache. Zugfahren ist sein Hobby. Mehr als das: eine Leidenschaft. Der 38-Jährige, der in einer Werkstatt für behinderte Menschen im hessischen Vogelsbergkreis arbeitet, lebt für das Bahnfahren. Manchmal macht er sich direkt nach der Arbeit auf den Weg zum Bahnhof, um den Feierabend für einen Kurztrip nach Fulda zu nutzen. Sobald er dort ankommt, besteigt er den Gegenzug. Es geht ihm ausschließlich um das Fahren, selbst die Wohnung hat er passend ausgesucht: Er wohnt direkt am Bahnhof, im betreuten Wohnen.
Die Wochenenden verbringt er gern mit Klaus Reinhold, einem Kollegen aus der „Werkstatt für behinderte Menschen“. Zusammen unternehmen sie längere Fahrten, manchmal auch mit einem Betreuer. Leisten können sich die beiden ihr Hobby nur, weil sie mit ihren Schwerbehindertenausweisen auf den meisten Nahverkehrsstrecken umsonst fahren können. Nicht auf allen: In Bayern etwa gibt es andere Bestimmungen. Als Reinhold und Heutzenröder auf einem ihrer Ausflüge in der Nähe von Ulm mit dem Zug einen Streckenabschnitt durch Bayern zurücklegten, mussten sie den vollen Fahrpreis bezahlen. Vierzig Euro – bei einem monatlichen Gehalt von wenigen hundert Euro ist das viel Geld. „Dabei haben wir dem Schaffner gesagt, dass wir behinderte Leute sind und nicht wussten, dass die Strecke kurz durch Bayern führt“, erzählt Heutzenröder. Meistens seien die Schaffner aber nett.
Ihre Reiserouten suchen sich die beiden mit Hilfe eines Streckenbuchs aus, das Vorlesen muss Reinhold übernehmen, weil Heutzenröder Analphabet ist. Allerdings kann er durch seine Erfahrung als Vielfahrer inzwischen viele Städtenamen lesen, da er sie schon von Bahnhofsschildern kennt. Sein Hobby hat das Interesse am Lesen und Schreiben neu geweckt. Viele Fahrpläne und Anschlussmöglichkeiten kennt er auswendig und braucht sie nicht nachzuschlagen. Das Reisen hat auch andere kreative Seiten in ihm geweckt: Auf den Fahrten bespricht er Kassetten und ergänzt diese mit Fahrtgeräuschen.
Die ersten Fahrten führten Heutzenröder und Reinhold durch Hessen. Längere Fahrten unternehmen die beiden, seit sie mit Moritz Wegwerth, einem Fotografen, unterwegs sind: Von Köln aus reisten sie durch ganz Deutschland. Inzwischen trauen sich die beiden auch weite Fahrten allein zu. Dass sie nur Nahverkehrszüge nutzen dürfen, stört Ingo nicht: „Zugfahren ist schließlich mein Hobby, da ist es doch schön, wenn die Fahrt länger dauert.“ Heutzenröder mag ausgefallene Strecken, wie die nach Wilhelmshaven, wo die Gleise an der Küste entlang führen und dann einfach aufhören. Seine Lieblingsstrecke ist aber die von Trier nach Köln. „Da fährt der Zug dann auch mal richtig schnell“, erzählt er, „toll sind auch Triebwagen, wo man nach vorne auf die Schienen schauen kann.“ Das kommt seinem großen Traum schon sehr nahe: einmal vorne in der Lok mitzufahren.