: Sie glaubt wirklich an die Kunst
PORTRÄT Sie gilt als Grande Dame der europäischen Theaterszene. Die belgische Kuratorin Frie Leysen wird das Festival „Theater der Welt“ in Essen und Mülheim leiten
VON ESTHER BOLDT
Ein japanisches Performancemagazin nannte sie jüngst „eine Leitfigur der europäischen Theaterszene“. Auch hierzulande gilt sie vielen als die „Grande Dame der europäischen Theaterszene“ – Frie Leysen zieht Superlative an. Dabei ist die 58-jährige Belgierin eher zufällig beim Theater gelandet, wie sie selbst lapidar anmerkt: „Ich habe Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Mittelalter studiert. Das qualifiziert nicht gerade für eine Karriere in der zeitgenössischen Performancekunst.“
Jetzt arbeitet Leysen erstmals in Deutschland, als Programmdirektorin des Festivals „Theater der Welt 2010“, das ab 30. Juni in Essen und Mülheim stattfindet. Im November stellte sie sich im Theater in Mülheim an der Ruhr öffentlich vor. Im Gespräch wirkt sie engagiert und charismatisch, kritisch und direkt.
Anfang der 1980er-Jahren begründete Leysen das Kunstzentrum De Singel in Antwerpen und entwickelte 1994 das „Kunsten Festival des Arts“ in Brüssel. Denn sie fand das Angebot an zeitgenössischer Kunst einer Hauptstadt, zumal der europäischen, nicht angemessen. Seinen zweiten Gründungsgrund trägt das Festival im zweisprachigen Titel: Der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen hatte gerade einen Höhepunkt erreicht. Leysen wollte Kulturschaffende und das flämisch und französisch sprechende Publikum zusammenbringen: „Wir wollten ein internationales Programm anbieten und die Theater beider Gemeinschaften zu Gastgebern für Künstler aus der ganzen Welt machen. Außerdem haben wir wallonische Künstler in einem flämischen Theater präsentiert und umgekehrt. Wenn Brüssel die Hauptstadt Europas sein sollte, sollte es sich für seine eigenen Differenzen öffnen.“
Jenseits Europas
Denn Leysen sieht Heterogenität als Gewinn an – daraus resultiert wohl auch ihre Leidenschaft für internationale Kunst jenseits des europäischen Horizonts. So holte sie zu einem Zeitpunkt chinesisches avantgardistisches Theater nach Europa, als davon hier kaum jemand etwas wusste.
Von Anfang an gestaltete sie ein kompromissloses, eigenwilliges Programm, das international Aufmerksamkeit erhielt – auch wenn zunächst sicher niemand dachte, dass das Kunsten einmal von der vielgereisten Theaterkritikerin Renate Klett zur „Königsklasse“ der europäischen Festivals gekürt werden sollte. Zur ersten Ausgabe 1994 lud Leysen Christoph Marthalers „Murx den Europäer!“ ein. „Naturgemäß tat sich ‚Murx‘ beim Kunsten total schwer“, erzählt Matthias Lilienthal, damals Marthalers Dramaturg an der Volksbühne, heute Leiter des Berliner HAU. „Frie Leysen hat den Marthaler früh ausgebuddelt, als ihn noch keiner kannte. Sie hat eine Radikalität im Geschmack und darin, an was sie glaubt – und sie kann eine Region dazu bringen, darauf einzusteigen.“
Er beschreibt das Besondere ihrer Arbeitsweise: „Sie fängt dort an zu arbeiten, wo andere aufhören. Sie guckt nicht nur Theater, sie trifft die Regisseure. Das Gespräch, der persönliche Eindruck zählt.“ So schiebt Leysen Produktionen mit an und hilft, künstlerische Entwicklungen überhaupt erst herbeizuführen.
Eine Vision
Auch Tim Etchells, Mastermind der britischen Performancegruppe Forced Entertainment, betont Leysens Gespür: „Sie hat einen sehr persönlichen Geschmack und eine Vision, was Theater und Performance sein können. Und sie vertraut dieser Vision, das ist heute sehr rar.“ Die meisten Kuratoren seien Diplomaten und Politiker, denen Geist und Passion fehlten. „Sie ist eine der Besten, denn sie glaubt wirklich an die Kunst, daran, dass sie auf eine sehr lustige, aber auch sehr merkwürdige Weise die Menschen verändern kann.“
2006 verließ Leysen das Kunsten und kuratierte im Folgejahr das interdisziplinäre Festival „Meeting Points 5“, das auf Stationen in Tunis, Rabat, Alexandria, Damaskus, Beirut, Ramallah, Amman und Kairo stattfand. Dort lernte sie, ihre eigene, trotz aller Reisen eurozentrisch geprägte Perspektive infrage zu stellen: „Wir müssen gegen diese Klischeebilder kämpfen, die wir von anderen Kulturen haben, und unsere eigene imperialistische, kolonialistische Haltung gegenüber nichtwestlichen Kulturen überprüfen.“
Über die Gattungsgrenzen
Diese Erfahrung nimmt sie mit zum Festival „Theater der Welt“. Es gilt als das größte internationale Theaterfestival Deutschlands. Alle drei Jahre findet es in einer anderen Region statt, geleitet von einem neuen Team. 2010 sind es im Kontext der Kulturhauptstadt Europas die Städte Essen und Mülheim.
Selbstverständlich will Leysen Künstler aus aller Welt einladen, und zwar ausschließlich Vertreter zeitgenössischer, spartenübergreifender Kunst: „In der zeitgenössischen Kunst sind die Disziplinen so eng miteinander verwoben, dass es ein wenig altmodisch ist, Gattungsgrenzen aufrechtzuerhalten.“ Das Festival wird vor allem die beiden gastgebenden Theater, das Theater an der Ruhr in Mülheim und das Schauspiel Essen, bespielen. Aber es lädt die Künstler auch ein, in der Region Orte wie ehemalige Zechen und Fabrikhallen zu bespielen, um die Konflikte der ehemaligen Industrielandschaft zu reflektieren. „So wird die belgische Gruppe Berlin ein neues Stück entwickeln, das nicht allein von dieser, sondern allgemein von Regionen inspiriert ist, die mit einem Verlust umgehen müssen. Es ist wichtig heutzutage, diesen Verlust zu reflektieren“, erzählt Leysen.
Obgleich acht Kooperationspartner das Festival tragen, das Internationale Theaterinstitut (ITI), die beiden gastgebenden Theater, Stadt, Land sowie Ruhr 2010, besteht Frie Leysen auf Unabhängigkeit: „Ich möchte ein Niemandsland herstellen, einen Freiraum für die Künstler, in dem es keinen politischen oder ökonomischen Druck gibt und keine ästhetische Diktatur.“ Wer sie erlebt, hat kaum Zweifel daran, dass der „Grande Dame“ dies gelingen wird, wenn sie im Ruhrgebiet zur Weltreise einlädt.