: Schlechtes Gewissen abgepresst
SCHMERZ Eine Studie in Empathie betreibt Regisseur Ivan Panteleev mit Texten von David Foster Wallace im Prater der Volksbühne Berlin. Schauspieler Samuel Finzi rettet den Abend vor dem Absturz ins Spektakel
Den Augen des Hummers, die durch die Glaswand des Aquariums auf den Blick des zukünftigen Käufers und Essers treffen, diesen Augen glaubt man am Ende wirklich begegnet zu sein. Wenn auch vermittelt durch den Schauspieler Samuel Finzi: Er ist der Sprecher des Essays „Am Beispiel des Hummers“, den der amerikanische Autor David Foster Wallace ursprünglich im Auftrag eines Gourmet-Journals schrieb. Im Prater der Volksbühne Berlin wird er von dem jungen Regisseur Ivan Panteleev auf die Bühne gebracht.
Wie Finzi ganz vorne auf dem Steg, der wie ein Bootssteg auf die Zuschauer zuführt, seine Pose einfriert, mit zwei erhobenen Zeigefingern, die Hummerfühlern gleich vibrieren, und nur seine Augen nach rechts und links zucken, vergisst man nicht so schnell. Auch nicht die Sätze, die das panische Scharren der Hummerscheren an der Wand des Topfs voll kochendem Wasser beschreiben, in den das noch lebende Tier geworfen wurde. Um Empathie und Ethik könnte es also in dieser szenischen Studie gehen, die Finzi fast allein bestreitet, nur von dem Musiker Sir Henry unterstützt. Am Anfang zelebriert Finzi, notdürftig mit einem weißen Anzug als Entertainer kostümiert, vor allem den Ekel, mit dem David Foster Wallace seinem Auftrag nachkam, über das Hummerfestival von Maine zu schreiben. Wie er die Esser hasst, die schalenknackend, fetttriefend, schwitzend, lärmend im Festzelt zusammengepfercht den Hummer kauen. Wie er sich gegen diesen Horror mit Wissen rüstet und über das Tourismusgeschäft, die Kulturgeschichte des Hummeressens und über den Stand der Forschung referiert: Spürt ein Hummer Schmerz? Hat er Gefühle?
Dem Leser des Gourmet-Journals, der Wallace enzyklopädischen Furor vielleicht anfangs noch staunend verfolgt hat, sollten wohl allmählich die Spucke austrocknen und die Kaumuskeln gefrieren, wenn er las, wie die Nerven und das Empfinden des Hummers organisiert sind. Doch als Buch publiziert und auf die Bühne gebracht, wird aus diesem moralischen Einwurf das etwas eitle Schaulaufen eines gebildeten Verächters der Masse. Weil das etwas dünn für einen Theaterabend ist, hat Ivan Penteleev diesen Text mit einem zweiten verkuppelt, aus Wallace’ „Interviews mit fiesen Männern“.
Samuel Finzi wechselt dafür aus dem weißen Anzug in ein grünes Kleid. Jetzt zieht Rhetorik die Zügel an und verriegelt gleichsam die Ausgänge. Wo eben noch von einem touristischen Spektakel die Rede war, hören wir nun vom Holocaust und einem vergewaltigten Mädchen. Wo man eben noch mit Süffisanz und Genuss zuhörte, sträubt sich nun alles gegen die Vereinnahmung durch den Sprecher. Wieder geht es um Empathie, aber diesmal im Ton des Vorwurfs: Keiner kann nachvollziehen, was dieses Opfer einer Vergewaltigung erlitten hat.
Der Redner entzieht mit diesem Argument den Zuhörern das Recht zum Einspruch und presst ihnen ein schlechtes Gewissen ab. Wie der Überlebende eines Verbrechens um diese Überlebenserfahrung reicher sei, ist der Punkt, den er hartnäckig nutzt, um wieder und wieder auf das Verbrechen zurückzukommen. Es ist nicht mehr zu unterscheiden, ob er sich an der Darstellung der Gewalt berauscht oder sie durchleidet.
Finzi im Kleid nutzt die Uneindeutigkeit: Sehen wir in ihm das Opfer? Sehen wir den Täter? Je weniger wir das entscheiden können, desto zwanghafter müssen wir hinsehen. Dieses psychopathisch Doppeldeutige auszuspielen liegt Samuel Finzi; dass er daraus nicht ganz die virtuose Schauspielernummer macht, die man ihm zutraut, sondern alles ein wenig skizzierter hält, rettet den immer gruseliger werdenden Abend vor dem Absturz ins Spektakel. KATRIN BETTINA MÜLLER