ORTSTERMIN: PEER STEINBRÜCK REDET KLARTEXT IN KIEL : Warten auf den Fauxpas
Er klänge noch norddeutscher als üblich, warnt Peer Steinbrück zu Beginn des Abends, er sei erkältet. Ein kleines Wort für ein großes Elend, denn der Kanzlerkandidat der SPD leidet sichtlich. Wenn er nicht spricht, wischt er sich die breite Stirn mit einem Taschentuch, nippt am Wasserglas, schaut mit offenem Mund und verschwiemelten Augen um sich. Dabei ähnelt er ein wenig Jack Nicholson, irgendwo zwischen „Das Beste zum Schluss“ und „Shining“. Und ein bisschen warten die 400 Menschen, die an diesem Abend in die Lounge der Kieler Ostseehalle gekommen sind, ja auch darauf, dass Steinbrück die Axt schwingt, rein verbal natürlich.
„Klartext“ heißt die Veranstaltungsreihe, bei der der Mann, der Kanzler werden will, durch die Lande reist und Fragen aus dem Publikum beantwortet. Bei einem anderen Termin dieser Art kam das Wort „Clowns“ für italienische Politdarsteller heraus und provozierte eine diplomatische Verstimmung.
Die Jung-Genossen Frederick Digulla und Leonie Pätzold, die beide in Kiel studieren, finden die Aufregung um die italienischen Clowns übertrieben. Sie genießen das Gedränge in der Halle, das gemischte Publikum: „Wir sind eben doch noch ein bisschen Volkspartei“, sagt Digulla zufrieden. Aber ein anderer Gast – ohne Parteibuch – gibt zu, er sei durchaus gekommen, um zu schauen, ob „der Problem-Peer in ein Fettnäpfchen“ stolpert. Die Voraussetzung dafür sieht offenbar Landesparteichef Ralf Stegner, der Steinbrück begrüßt als „jemand, der linker und diplomatischer ist als ich“ – ein zwiespältiges Lob des Parteilinken für den Agenda-2010-Verfechter Steinbrück.
Aber der Kandidat vermeidet die Fallen: Er habe in Kiel vor Jahren den Nordstaat ausgerufen, Ähnliches werde er nicht tun. Als eine Frage nach Ungarns zunehmend rechter Innenpolitik kommt, verzichtet er auf „Vergleiche mit ehrbaren Berufsgruppen“. Viele Standpunkte sind bekannt: Merkel „kommt nicht aus der Furche“ mit eigenen Positionen, bei der CDU stecke hinter einem schönen Etikett „nichts in der Buddel“. Er wolle Kanzler werden, „weil einiges aus dem Lot geraten ist in der Gesellschaft“.
Er bleibt auch beim „Klartext“, wenn es unangenehm wird. So interessiert den Sprecher einer Bürgerinitiative, die sich gegen die Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund einsetzt, Steinbrücks Haltung zu Kohlekraftwerken – deren Abgase verpresst werden müssen. „Wir werden Gas- und Kohlekraftwerke brauchen“, sagt Steinbrück – dafür bekommt er nur wenig Beifall. Er wiederholte sein Bekenntnis zur Agenda 2010 und verteidigte die Rente mit 67: Dass immer mehr Rentner auf weniger Arbeitnehmer kommen, sei „durch Gewerkschaftsbeschlüsse nicht aus der Welt zu schaffen“.
Nach fast zwei Stunden hat es Steinbrück geschafft. Pannenfrei. ESTHER GEISSLINGER