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Archiv-Artikel

Fehlendes Kussglück

ZUNGEN Alexandre Lacroix hat eine kleine Kulturgeschichte des Kusses geschrieben

Der Weg von der Mundhöhle zu dem nur ein Stockwerk darüber wohnenden Gehirn ist nicht weit. Warum also nicht durch die dünne Gaumendecke hindurch das Gehirn ein bisschen beobachten lassen, was da unten abgeht, wenn plötzlich sich statt der einen Zunge dort zwei befinden? Und wenn bei alledem ein Philosoph im Spiel ist, der zudem Romancier ist und so zu der Überzeugung neigt, dass nichts Menschliches dem Menschen fremd sein sollte, kann man mit interessanten Entdeckungen rechnen.

Der französische Autor Alexandre Lacroix hat jedenfalls herausgefunden: Das Zungengeturtel im Dunkel zwischen den Backenzähnen ist gar nicht so formlos, wie man es bei dem feuchten Fleischlappen erwartet hätte. Im Gegenteil, es fügt sich in vier klar beschreibbare Grundkategorien: den „Trommelkuss“, den „Pinselkuss“, „den Stockkuss“ und den „endoskopischen Kuss“. Lacroix, der auch Chefredakteur von Philosophie Magazine ist, streut auf den ersten Seiten des Buches erst einmal selbstironisch-nonchalant den Verdacht aus, eigentlich wenig berufen zu sein, ausgerechnet zum Thema Küssen Aufschlussreiches beizusteuern. Freimütig bekennt der 1975 geborene Franzose, dass seine Beschäftigung mit dem Thema von dem Vorwurf seiner Frau, er küsse sie zu wenig, ausgelöst wurde. Es ist fast paradox: Das facettenreiche Buch über das Küssen verdankt sich dem Umstand, dass Lacroix auch dieses Mal nicht geküsst hat, während er vor dem Computerbildschirm sitzt und eine lange Nacht Gedanken über das Küssen notiert.

Der steife Klassiker Goethe, zumindest in seinen besten Stunden, scheint da gleichmäßiger auf die Ansprüche der Sinnlichkeit und der Geistigkeit reagiert zu haben. In den langen Nächten seiner Rom-Reise durchmischte er problemlos Küssen und Schreiben; auch angesichts „lieblichen Busens“ taktfest, zählte er mit „fingernder Hand“ auf den Rücken seiner Faustina den Versrhythmus. Lacroix, als heutiger Autor, fingert direkt in die Tastatur. Der Text mäandert angenehm: Philosophische Reflexionen über das Wesen des Kusses wechseln mit der autobiografischen Aussondierung der eigenen Kusserfahrungen und mit Streifzügen durch die Geschichte der Repräsentation des Kusses in Literatur, Malerei und Film.

Der Kuss, so deutet Lacroix an, ist keineswegs eine Kulturen und Zeiten übergreifende Konstante. Seine fehlende Universalität erklärt sich daraus, dass anders als beim Sexualakt kein Metabolismus zum Küssen zwingt. Wie der Alltag vieler Paare zeigt, ist er fragil. Aber er hat die Kraft, eine Beziehung zu eröffnen. Und wenn die Partnerzunge nur noch als geschmackloser Kaugummi empfunden wird, ist es klar, dass die beiden auseinandergehen sollten. Auch wenn das Küssen nur die kleine „Kammermusik“ gegenüber der großen Symphonie des Koitus ist, hat es den Vorteil, demokratischer zu sein. Von seiner Morphologie her egalitär, eröffnet es den Frauen ein Feld, in dem sie leichter die Führungsrolle übernehmen können: Bei der Vereinigung der Münder, anders als bei der der Geschlechtsorgane, gibt es nicht die Gewalt der Penetration.

Anders als die philosophischen und die autobiografischen Passagen lassen die kulturgeschichtlichen Exkurse des Buches oft unbefriedigt. Lacroix schmatzt eine kurze Berührung hin, lässt sich aber nicht auf ein erregtes Zunge an Zunge mit den ausgewählten Textstellen ein. Das Buch endet mit der These, die künstlerische Repräsentation des Kusses sei in unseren Tagen an das Ende ihrer Möglichkeiten gelangt. Wir haben Pornografie, aber nicht mehr, wie zu Klimts Zeiten, Ikonen, die uns das Kussglück nahebringen. Dabei sei es gerade unsere verrohende Epoche, die des Kusses bedürfe. Man könnte resümieren: in Gesellschaften, in denen viel geküsst wird, wird weniger gebissen. CHRISTOF FORDERER

Alexandre Lacroix: „Versuch über das Küssen“. Aus d. Französischen v. T. Bardoux. Matthes & Seitz, 2013, 175 S., 12,99 Euro