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Archiv-Artikel

„Gottlose Heiden zweifelhafter Herkunft“

LEIPZIGER BUCHMESSE Klaus-Michael Bogdal bekommt heute Abend den Buchpreis zur Europäischen Verständigung überreicht. Der Literaturwissenschaftler über den historischen Hass auf Roma und die aktuelle Politik

Klaus-Michael Bogdal

■ geboren 1948, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, davor Professor für Literaturwissenschaft an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg.

■ Bogdal bekommt heute zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen für das Buch „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“ (Suhrkamp 2011), in dem er die Verfestigung eines Vorurteils gegen ein imaginäres Kollektiv beschreibt.

INTERVIEW CHRISTIAN JAKOB

taz: Herr Bogdal, die Roma vergleichen den Hass auf sie selbst oft mit dem Antisemitismus. Sie halten dies für falsch. Weshalb?

Klaus-Michael Bogdal: Zutreffend ist, dass beide Völker gleichermaßen von Rassenwahn und dem Holocaust betroffen waren. Beide sollten durch Vernichtung an einer „Vermischung“ mit den Deutschen gehindert werden. Es gibt dennoch große Unterschiede.

Welche denn?

Die Juden lebten seit der späten Antike in Europa – also schon zu einer Zeit, als es die europäischen Staaten noch nicht gegeben hat. Die Roma hingegen kamen im 15. Jahrhundert, mitten in einer gewaltigen historischen Umbruchphase. Sie wurden sofort sozial ausgegrenzt. Für sie gab es keinen Platz, oder allenfalls am untersten Rand, etwa als Sklaven in den moldawischen Fürstentümern.

Was haben die Juden anders gemacht?

Die jüdische Kultur mit ihrer Schriftlichkeit wird als wichtige Wurzel der europäisch-christlichen Kultur verstanden. Der Antijudaismus entwickelte sich also auf Augenhöhe mit ihrer Religion, die der christlichen vorausging. Die jüdischen Gemeinden waren anerkannte Rechtspartner. Die Territorialherren und Städte haben Verträge mit ihnen geschlossen, meist jedoch, um sie nach eigener Interessenlage dann wieder zu brechen. Die Wahrnehmung der „Zigeuner“ blieb stets unterhalb solcher Möglichkeiten. Sie galten als gottlose Heiden zweifelhafter Herkunft. Mit diesen „Bettlern und Dieben“ schloss man keinen Vertrag. Sie waren immer nur Objekte, menschliche Verfügungsmasse ohne Rechte und Schutz.

Ist ihre Mobilität eine weitere Ursache des Zigeunerhasses?

Ja. Die Herausbildung der Nationalstaaten verlangte territoriale Bindung und Identität mit dem, was wir seit dem 19. Jahrhundert „Heimat“ nennen. Den Romagruppen wurde im Gegensatz dazu ein „angeborener Wandertrieb“ angedichtet.

Sie wurden so zu einer Art Antibürger?

Ja. Sie galten als Volk, das keine Heimatliebe kennt und den ihm anvertrauten Besitz vernachlässigt. Ihre Gleichgültigkeit führe auch dazu, dass sie sich keinem Staat verpflichtet fühlen. Eine frühe Quelle berichtet, dass Sinti auf einem „herrenlosen“ Stück Land einen ordentlichen Garten angelegt hatten. Nach ihrer Vertreibung nutzte ihn die Dorfbevölkerung nicht für die Landwirtschaft, sondern hütete ihn ängstlich als magischen Ort, auf dem man von den Sinti „besprochene“ Zauberkräuter finden könne.

Sie schreiben, die Ablehnung der Roma sei konstitutiv gewesen für die frühen Nationalstaaten: Die Abgrenzung zu ihnen diente als Zeugnis der eigenen Überlegenheit. Haben diese Funktion nicht viel eher die „Wilden“ aus den Kolonien erfüllt?

In der Tat haben die Kolonialmächte im Blick auf die kolonialisierten Völker ihr Selbstbild entwickelt. Es gab aber einen Rückkopplungseffekt: Man entdeckte etwa in England die Roma als die „einheimischen Wilden“. Deutschland und die k. u. k. Monarchie hingegen besaßen keine Kolonien. Dort entdeckte man den nicht-zivilisierten und nicht-zivilisierbaren Wilden in den „Zigeunern“. Sie wurden dann auch als die „Kaffern und Hottentotten Europas“ bezeichnet.

Die Deutschen hatten als „verspätete Nation“ ein besonders starkes Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber Volksfremden. Was bedeutete das für die hiesigen Sinti?

Es gab zumindest eine analoge Bewegung zum Antisemitismus: Preußen hatte die durch Geburt erworbene allgemeine Staatsbürgerschaft 1842 eingeführt. Die „einheimischen Zigeuner“ konnten sich nun ungehindert dort aufhalten. Diese Neuerung bewirkte einen enormen Assimilationsschub. Um sie dennoch weiterhin stigmatisieren zu können, wurde schon 1843 ein Gesetz über die Bestrafung von Landstreichern, Bettlern und Arbeitsscheuen verabschiedet. Später suchte man nach Sonderregelungen, um sie durch ihre Personalpapiere sofort erkennen zu können. Die Methode gleicht derjenigen gegenüber den Juden, die einen zweiten Vornamen annehmen mussten.

Sie sagen, die Roma konnten sich gegen die Zuschreibungen nicht wehren, seien ihnen „hilflos ausgeliefert“ gewesen. Bis heute fehlt ihnen eine starke einheitliche Repräsentanz. Weshalb?

Es handelt sich in den verschiedenen europäischen Ländern um sehr unterschiedliche Gruppen. Einige haben in den letzten Jahrzehnten durchaus respektable Organisationen mit Außenwirkung aufgebaut. Die organisatorische Schwäche anderer Gruppen lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie es sehr lange nicht angestrebt haben, eine eigene Schriftkultur zu entwickeln. Deshalb ist das Verhältnis zur eigenen Geschichte auch ein anderes. Hinzu kommt, dass die Mehrheit wohl immer noch die Familie oder Großfamilie als alleinigen Bezugspunkt nimmt. Fast alle anderen ethnischen Minderheiten dieser Größe tun das. Warum nicht die Roma?

Man kann diese Frage stellen. Aber ich würde ihre Passivität eher als positives Phänomen sehen, das keiner Rechtfertigung bedarf: Zu uns in Europa zählen wir mit den Roma eine große Gruppe, ein Volk, das existieren kann, ohne sich an den abstrusen Territorialkämpfen um nationale Identität zu beteiligen, wie wir sie etwa im Kosovo beobachten.

Wie funktioniert dann die Organisation der Roma?

Die Organisationen erleben gerade einen schwierigen Wandel. Wer ist autorisiert zu sprechen? Der Älteste? Derjenige mit der höchsten Bildung? Der Einflussreichste oder der Erfolgreichste? Wird es politische Strukturen geben? Der Zentralrat der Sinti und Roma zieht sein Ansehen aus der Tatsache, dass er sich um die Anerkennung als Opfer der Verfolgung und Vernichtung gekümmert hat, und zwar erfolgreich.

Als bekannt wurde, dass Sie heute mit dem Leipziger Buchpreis geehrt werden, haben Sie gesagt: „Wenn die Finanzkrise in den Hintergrund rückt, dann wird die soziale Lage der Roma in Europa immer wichtiger werden.“ Ist es nicht genau anders herum? Hat nicht die Finanzkrise zu einem regelrechten Schub an Propaganda gegen die angeblich parasitären Roma geführt?

Ja. Aber ich meinte etwas anderes: Wenn man es mit Europa ernst meint, es für einen zukunftsfähigen kulturellen und sozialen Raum hält, dann muss man die Lage der Roma genauso wichtig nehmen wie den Euro. Man muss den politischen Willen aufbringen, sie zu integrieren. Bislang gilt es unausgesprochen nicht als sinnvolle Investition, den Roma etwas zu geben.

Seit Wochen beschwört Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die Notwendigkeit, „Armutszuwanderung“ von Roma nach Deutschland zu verhindern. Was denken Sie dazu?

Ich beobachte das sehr genau. Die Ruhrgebietsgemeinden mit großer Einwanderungstradition reagieren zurückhaltend auf diese Vorstöße. Noch stellen sie Lösungen in den Vordergrund, der Rechtspopulismus hat bisher noch nicht Fuß fassen können.

Halten Sie das für möglich?

Die Bundesregierung reicht im Augenblick den Schwarzen Peter weiter. Eine gespaltene Rhetorik herrscht vor: Wir sagen ja nichts gegen die armen Menschen. Deren Lage können wir gut verstehen. Aber die Länder, aus denen sie kommen, wollten wir ja im Grunde nicht als Mitgliedsstaaten. Und nun müssen wir ausbaden, was die EU-Institutionen in den Verhandlungen versäumt haben. Zugespitzt gesagt: Schengen hin oder her – näht den Roma einen „gelben Stern“ an, damit wir sie an der Grenze sofort erkennen. So vergiftet man die ohnehin schwierige Situation.

Im Oktober hat die Bundesregierung das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. Ist es gelungen?

Ja. Ich finde es beeindruckender als die Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden. Es ist ein differenziertes Denkmal mit mehreren Sinnangeboten. Das hat mich überzeugt. Eine verstreut über Europa lebende Gruppe hat nun einen Ort, zu dem sie hingehen kann. Ich konnte bei meinen Besuchen beobachten, wie Sinti- und Romafamilien feierlich gekleidet dorthin kommen, um ihre Toten zu ehren und zu trauern. Das Denkmal erfüllt seine Funktion auf wunderbare Weise.

Viele sahen in dem späten Zeitpunkt, zu dem das Denkmal gebaut wurde, einen Beleg dafür, dass das Schicksal der Roma lange Zeit nicht beachtet wurde.

Das kann man nicht von der Hand weisen, auch wenn ich niemandem unterstellen will, eine Hierarchie bewusst vor Augen gehabt zu haben. Aber die Anerkennung der Leidensgeschichte der Roma hat sich wirklich erst sehr spät durchgesetzt.