Ein Rabbi auf Gleisen : „Ich bin noch nicht erwachsen“

Walter Rothschild ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein – und Bahn-Fan. Ein Gespräch über das Deutschlernen mit Eisenbahn-Magazinen.

Sein zweites Zuhause ist die Lounge der Deutschen Bahn: Walter Rothschild. Bild: Miguel Ferraz

taz: Herr Rothschild, Sie sind Rabbiner und wollten unbedingt, dass wir uns am Hamburger Hauptbahnhof treffen. Wieso?

Walter Rothschild: Das ist ein wichtiger Ort meines Lebens. Ich fahre überall mit der Bahn hin, weil ich in Berlin wohne und viele Verpflichtungen in Norddeutschland habe. Der Hauptbahnhof ist ein wichtiger Zwischenstopp, die DB-Lounge mein zweites Zuhause. Nichts gegen den Rest von Hamburg – aber hier kenne ich mich seit den 70ern aus.

Wieso das?

1973 war ich mit der Schule in England fertig und von März bis September Lehrlingsassistent bei der Deutschen Bundesbahn. Mein Vater, der 1939 mit 16 nach England gekommen war, hatte das vorgeschlagen. Ich sollte in die andere Richtung gehen, zurückgehen nach Deutschland – unter anderen Umständen natürlich. Aber ich sollte weg von zu Hause, Selbstvertrauen aufbauen. Und wir hatten ja noch Kontakte hier.

Was haben Sie gemacht?

Ich habe auf dem Rangierbahnhof Unterelbe, bei der Streckenmeisterei, bei der Wagenwerkstatt Harburg, im Stellwerk Unterelbe und im Bahnbetriebswerk gearbeitet und habe etwa Loks gereinigt. Ich war auch außerhalb des Dienstes viel hier am Hauptbahnhof und behielt meine Bundesbahnjacke an. Alle Menschen dachten, ich wäre wichtig. Das war schön. Ich konnte Leute beraten. Die Jacke habe ich noch immer.

Wofür war diese Zeit gut?

Rückblickend denke ich, das war Geldverschwendung der Bundesbahn, einen englischen Studenten zu beschäftigen. Aber für mich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich hatte das erste Mal Heimweh in Hamburg, musste hier das erste Mal selbst kochen, mein Bankkonto eröffnen, die ersten Briefe nach Hause schicken.

Sie sind in Hamburg erwachsen geworden?

Well, ich bin noch nicht erwachsen. Es war diese Übergangsphase. Weg von zu Hause, raus in die große weite Welt.

Wie sah die für Sie hier aus?

Ich habe mich viel um Eisenbahnsachen gekümmert, ich hatte ja Zeit. Ich ging zum Stammtisch des Vereins der Verkehrsamateure und Museumsbahnen Aumühle und las Eisenbahn-Magazine. So habe ich Deutsch gelernt. Als ich einmal so ein Magazin kaufte, sah ich eine Zeitschrift mit einem Davidstern, die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, und kaufte sie mir. Ich war überrascht.

Wieso?

Ich hatte keine Ahnung, dass es hier Juden gab. Als ich mich in Wilhelmsburg, bei der Behörde anmeldete, wusste die Dame nicht mal, wie man „jüdisch“ schreibt, als sie mich nach meiner Religion fragte. Als Student war ich später Mitglied in der Jewish Society – und der Einzige, der sein freies Jahr nicht in Israel, sondern in Deutschland verbracht hat. Die konnten das kaum glauben.

Sie sind schon länger Eisenbahn-Fan als Theologe.

Ja. Auch mein Vater hatte immer ein großes Interesse an deutschen Eisenbahnen gehabt. Das war vielleicht auch ein bisschen doppeldeutig, schließlich war er ja Flüchtling. Das Problem für mich ist: Eisenbahnen sind für mich sowohl Spaß als auch bitterer Ernst. Eisenbahnen haben immer diese Schattenseite. Man schaut einen Güterwagen an und weiß nie, ob es ein nettes Objekt ist oder ein schlimmes. Es gibt kein Anschlussgleis in Europa, was nicht irgendwas mit dem Krieg oder dem Holocaust zu tun hatte. Auf der einen Seite möchte ich mein Hobby genießen, auf der anderen Seite weiß man, was mal war. Das ist ein bisschen schizophren.

Wie gehen Sie damit um?

Ich bin involviert. Ich bin Mitglied einer Arbeitsgruppe, die „World War II Railway Study Group“. Wir geben einen Newsletter heraus. Ich übersetze viele Artikel. Auch bei einer Zeitschrift über die Rolle der Eisenbahn im Holocaust habe ich geholfen, Übersetzungen und Lektorarbeiten gemacht – ehrenamtlich natürlich. Ich bin aber auch Mitglied in einigen Museumsgruppen. Es gibt eine Gruppe in Glücksstadt, die brauchte etwas Hilfe, um einige Güterwagen zu behalten. Jetzt bürge ich für zwei Güterwagen.

Auch wenn Sie Bahn-Nerd sind: Hätten Sie manchmal gerne eine feste Gemeinde mit weniger Fahrerei?

Ich bin Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, das ist fest – aber das ist nur eine Viertelstelle. In Schleswig-Holstein gibt es zwei Landesverbände von jüdischen Gemeinden, die konkurrieren. Die ursprüngliche Idee war, dass alle zusammenarbeiten. Dann wäre das eine Vollzeitstelle, aber dann gab es die Gründung des zweiten Landesverbands und damit war das vom Tisch. Ich arbeite auch für Gemeinden in Köln, in Freiburg im Breisgau und in Wien. Früher war ich auch in München.

Sind sich die Gemeinden ähnlich?

Ja, es gibt viele Gemeinsamkeiten: Das sind alles liberale Gemeinden. Die sind alle egalitär, wir benutzen ein ähnliches Gebetsbuch. Die Gemeinden sind alle klein und arm. Wir sind oder waren die Außenseiter. Es gibt in Köln eine Synagogengemeinde mit viel Geld vom Staat, die liberale Gemeinde bekommt keinen Cent. In Freiburg bekam meine kleine Gruppe bis vor zwei Jahren keinen Cent.

Gefällt Ihnen die Rolle, als Rabbi der Außenseiter zu arbeiten?

Gefällt es Ihnen, für die taz zu arbeiten statt für die FAZ? Es gibt Vor- und Nachteile für mich. Nachteil: weniger Geld, keine Sicherheit, keine Kontinuität. Vorteile: Freiheit, weniger Abhängigkeit. Wenn ich die Gerüchte höre, wie manche Gemeinden geführt worden sind und werden, dann bleibe ich lieber in den kleinen Gruppen, die kein Geld haben, dort gibt es keinen Grund für Machtmissbrauch. Aber: Wir möchten gerne anerkannt werden.

Worum geht es denn dabei konkret?

Unsere Mitglieder möchten als Juden anerkannt werden, auch wenn sie bei uns konvertiert sind. Die sollen ihre Kinder in die Schulen schicken können, sie sollen einen Platz auf den Friedhöfen finden können und so weiter.

Das passiert noch nicht?

In manchen Städten schon. Aber nicht überall. In Köln werden Leute, die bei einem liberalen Rabbiner konvertiert sind, nicht von der Synagogengemeinde akzeptiert.

Wie sieht Ihre Gemeindearbeit aus?

Wir haben fünf Gemeinden in Schleswig-Holstein. Ich komme zwei Mal im Monat und der Plan ist jedes Mal, zwei bis drei Gemeinden zu besuchen. Glücklicherweise gibt in jede Richtung in jeder Stunde einen Zug.

Und wenn ein Gemeindemitglied sagt: Ich möchte mit dem Rabbi reden – dann muss der warten?

59, wurde in Bradford (England) geboren und lebt heute mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin.

Rabbiner: Rothschild studierte in Cambridge Religionswissenschaften und ließ sich am Leo Baeck College in London zum Rabbi ausbilden. Er arbeitete in Leeds, Wien, Aruba (Niederländische Antillen), Berlin und München. Heute ist er freischaffender Rabbi - unter anderem als Landesrabbiner des Landesverbands der Jüdischen Gemeinde von Schleswig-Holstein. Er hat mehrere Bücher über das Judentum und seine Arbeit als Rabbi veröffentlicht.

Eisenbahner: Früher war Rothschild ein paar Monate Aushilfe bei der Bundesbahn, heute beteiligt er sich an Bahn-Forschungsgruppen und ist Herausgeber einer Zeitschrift über Eisenbahnen im Nahen Osten. Zu dem Thema schrieb er auch seine Doktorarbeit.

Entertainer: Seine Erlebnisse als Rabbi verarbeitet Rothschild auch als Sänger der Jazzband "Walter Rothschild And The Minyan Boys".

Normalerweise ja, leider. Natürlich lese ich E-Mails auf dem Handy und ich fahre auch zick-zack durch Schleswig-Holstein, um ein Treffen möglich zu machen. Aber einfach zu sagen: „Oh, Sie sind krank, ich komme morgen vorbei“, das geht nicht. Das ist das Problem.

Wie gehen Sie damit um?

Ich habe ein paar Leute, die sehr gut allein die Gottesdienste machen können. Man braucht keinen Rabbi für einen Gottesdienst – nur für bestimmte Handlungen, bei einer Hochzeit oder einer Konversion. Es ist nicht ideal, aber das ist die Wahrheit. Es gibt wenige Juden in Deutschland, weniger als 100.000. Es gibt wenige Rabbis und man muss die Arbeit teilen.

Aber wären Sie denn nun lieber Rabbiner für nur eine Gemeinde?

Ich war elf Jahre in Leeds Rabbiner einer Gemeinde, ein paar Jahre als Wanderrabbiner in Wien, war ein Jahr in der Karibik und dann in Berlin, dort gab es Streit – und ich wurde entlassen. Deswegen habe ich keine Lust mehr, abhängig von einer Gemeinde zu sein, von einem Vorstand. Aber natürlich habe ich weniger Geld und viel mehr Stress. Das ist für meine Familie nicht sehr gut und für meine Ehe auch nicht. Nichtsdestotrotz: Das Gefühl war furchtbar, dass zwei oder drei Leute, die kein Interesse an Religion haben, aber machtbesessen sind, alles im Leben kontrollieren. Jetzt weiß ich: Wenn es in einer Gemeinde irgendwie schief geht, habe ich eine andere. Und die wissen es auch!

Sie fahren gleich mit dem Zug nach Berlin. Sie sind seit vielen Jahren Vielfahrer. Haben Sie eigentlich immer noch Spaß daran?

Ja, besonders, wenn es eine Steckdose für meinen Laptop gibt. Und mir niemand gegenübersitzt, der plaudern will. Denn: In einem Zug rede ich sehr ungern mit Menschen – außer es ist die eigene Familie. Beim Zugfahren möchte ich denken, lesen, schreiben – oder tagträumen.

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