: Unverdientes Geld
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Wie die Münze ein Zeichen für die Sache ist und sie vertritt, ist jede Sache ein Zeichen für die Münze und vertritt sie. Der Staat steht in dem Maß in Blüte, wie einerseits die Münze alle Sachen gut vertritt und andererseits alle Sachen die Münze gut vertreten und das eine als Zeichen für das andere steht, das heißt, daß man das eine zu entsprechendem Wert bekommen kann, wenn man das andere hat. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748
Jetzt suchte J. das Rentenamt auf. Ja, man glaubt es kaum, sie wird 65 und die Rente fällig. Nach komplizierten Berechnungen, die man ihr schriftlich zustellte und die zu überprüfen außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt, steht ein persönliches Gespräch an. Schwer zu sagen, warum.
Die Summe, die sie demnächst monatlich erhält, imponiert durch ihren lächerlichen Umfang. Kein Grund, die Zeitläufte zu beschuldigen oder die Bundesregierung. Die Rente fällt so niedrig aus, weil J. nur ganz kurze Zeit, am Anfang ihres Berufslebens, fest angestellt war und entsprechend eingezahlt hat. Wäre vom Rentenamt der Bescheid gekommen, eine Zahlung fällt aus, J. hätte es stoisch genommen. Für welche Sache die Münze, die demnächst so bescheiden anrollt, eintritt, J. ist es unklar; dass sie diese Rente verdient hätte, dass sie ihr, verdammt noch mal, zusteht und eigentlich auch in angemessener Höhe, kein Gedanke liegt J. ferner. Was ihr monatliches Einkommen angeht, muss sie sich bis auf Weiteres auf andere Ressourcen verlassen.
Auch M. hat via Lebensalter einen Auszahlungszeitpunkt erreicht. Eine private Lebensversicherung, deren Auszahlung sich natürlich weit einfacher gestaltet als die des Rentenamts. Alles Geld kommt auf einmal, und an seiner Menge könnte man die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ablesen: Einst, als er ein Kind war, schlossen die Eltern von M. diese Lebensversicherung für ihn ab; damals sollten zu seinem 60. Geburtstag 7.000 Mark ausgezahlt werden – jetzt sind es 40.000 Euro.
M. kommt das Geld gelegen. Seine Einkommensquellen fließen gerade dürftig, und so erspart ihm die Lebensversicherung das Sorgenmachen. Gleichzeitig ist die Angelegenheit leise unheimlich. Zwar hat er, seit er Geld verdient, kontinuierlich dort Beiträge eingezahlt, doch ist hier die Sache, welche die Münze vertritt, für ihn ebenso unklar wie die Rente für J. Gewiss könnte er sich den Vorgang genau nachrechnen lassen. Doch fehlt ihm dazu jede Lust; auch jedes Misstrauen, die Versicherung habe ihn betrogen.
Was ihn vor allem irritiert, das ist wohl: dass das Geld als Einkommen aufzufassen sich verbietet. Die Summe ist hoch genug, aber auch einmalig. Keine Arbeitsanstrengung ist denkbar, mittels derer sich die Zahlung wiederholen ließe; das Geld – was seinen Charakter als Nichteinkommen unterstreicht – bleibt steuerfrei. M. entdeckt bei sich abergläubische Regungen: dass ihn die Versicherungssumme bei seinem Realeinkommen behindern könnte, insofern sie ihn eines angemessenen Verhältnisses zwischen Sache und Münze entwöhnt, von nun an wartet er nur noch passiv auf Einkünfte, statt sie zu erarbeiten … (so funktioniert halt die Traumlogik, die solche Befürchtungen steuert).
Noch härter hat es – wenn man das so sagen kann – R. getroffen. Sie gehört einer Generation an, über die schon viel öffentlich geredet wurde, die Erben, für die ihre Eltern von Anfang an Vermögen anzuhäufen sich bemühten, in welchem Umfang immer, eine Reaktionsbildung auf Krieg und Katastrophe.
Auf sie kam ein Grundstück im Süddeutschen, das sie gleich nach dem Tod der Eltern verkauft hat. Wie für M. blieb für R. die Summe steuerfrei – fragen Sie mich nicht nach den Einzelheiten, die Sache war jedenfalls völlig legal –, und als das Geld auf ihrem Konto eintraf, begann die Bank sie mit guten Ratschlägen zu überziehen, wie es günstig anzulegen sei.
Auch M. beschlichen merkwürdig abergläubische Regungen. Mal verkörperte der Geldhaufen Allmacht (nie wieder arbeiten), dann wiederum Ohnmacht (er verschwindet unter der Hand). Als sie schließlich den Lockungen der Bank nachgegeben hatte, gingen die Börsenkurse gerade nach unten, und die Verluste belehrten sie darüber, dass eher Ohnmacht angesagt sei. Gleichzeitig tat ihr der Absturz unheimlicherweise ganz gut – als müsse sie büßen für das unverdiente Geld. Das Zuwarten, zu dem ihr die Bank dringend riet, hat sich jetzt ausgezahlt; die Kurse gehen kontinuierlich nach oben, und jetzt kann R. den Eindruck gewinnen, in diesem Zuwarten sei doch so etwas wie eine Sache entstanden, welche die Münze angemessen vertritt. Wiederum Aberglauben.
J. ebenso wie M. und R. gelangen an ihr Einkommen normalerweise durch Arbeit, und es versteht sich, dass der Gegenstand dieser Arbeit in keinem Fall Geld ist. Wer mit Geld arbeitet, hat zu Zinsen, Anlagen, Börsenkursen ein ganz anderes Verhältnis – hier ist dann das Geld die Sache, welches die Münze vertritt. Merkwürdigerweise kommt den Leuten, die mit Geld arbeiten, in unseren Kreisen eine gewisse Verachtung zu – aber das ist ein anderes Thema.
In der Perspektive der Theorie sind J. ebenso wie M. und R. mit falschem Bewusstsein geschlagen. Bekanntlich bestimmt der Zufall das Verhältnis von Signifikant und Signifikat, Münze und Sache; respektive das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, auf das weder J. noch M. oder R. durch ihre Arbeit direkten Zugriff haben, dem sie vielmehr unterworfen sind.
Merkwürdigerweise bleibt diese Aufklärung lebenspraktisch folgenlos. Wer Arbeitseinkommen erzielt, möchte es verdient haben. Wer Münze ohne jede Vertretung durch Sache einfordert gerät in eine nihilistische Wut hinein, die Allmachts- ebenso wie Ohnmachtsphantasien schon gar stimuliert.
Was meine Person angeht, so erhalte ich jedes Jahr vom Rentenamt eine Aufstellung, was ich zu erwarten habe – nicht so verschwindend wie bei J., aber kaum mehr als die Miete. Dann gab es noch andere Vorsorgemaßnahmen, deren Auswirkungen mir jetzt genauer vorzustellen ich mich weigere. Zum Rentenbescheid gehört die Information, dass unbegrenzt Zuverdienst erlaubt sei (also nicht abgezogen wird): Diese Nachricht beruhigt mich weit gründlicher als der Gedanke an die Regelmäßigkeit der Auszahlung, dass ich im Herbst meines Lebens seine Früchte genießen darf.
Mein Vater leistete sich jenen Zuverdienst durch Arbeit, bis er 75 Jahre alt war. Dann versagten die zuständigen Abteilungen seines Gehirns. Keine nihilistische Wut, sondern eine immer sich verstärkende Depression übernahm die Macht, und die ordentliche Rentenzahlung, die er sich sein Leben lang erarbeitet hatte und die sogar noch mein Studium finanzierte, blieb ganz ohne Wirkung. Es gab einfach keine Sache mehr, für die die Münze eingetreten wäre. Eine Zeit lang half Arbeit im Garten, aber Sklerose und Depression verhinderten hier ein Engagement, das sich an den Wirkungen der Arbeit hätte entzünden und erfreuen können. Am Ende, kurz bevor alle Lichter ausgeknipst waren, las er sämtliche Hornblower-Romane von C. S. Forester, die eine Karriere auf See erzählen. Dort die seine zu machen, davon träumte er als Junge.