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Archiv-Artikel

Der Beobachter ist in Bewegung

Die Diskurse laufen dem Tanz hinterher: Auf der Tagung „Tanz als Anthropologie“ wird nach dem Wissen gefragt, das im Tanz verschlossen ist. Interdisziplinär selbstverständlich. Ein Gespräch mit der Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Der Titel der Tagung „Tanz als Anthropologie“ klingt gewagt. Man denkt an Tanz als Kunst, Sport, Freizeitaktivität – warum aber Anthropologie?

Gabriele Brandstetter: Anthropologie verstehen wir in einem weiten Sinn als Wissen vom Menschen. Wir wollen auf dieser Tagung den Tanz nicht nur als eine Kunstform anschauen, sondern als eine andere Form von Wissen: ein Wissen vom Menschen in seiner Umgebung, in seinen Praktiken, von seinem Körper, über die Art, wie man interagiert. Dieses Wissen lässt sich politisch, historisch und auch ästhetisch befragen und ist in allen Kulturen vorhanden. Das schwierigste daran ist, dass der Tanz dieses Wissen aber auch in sich verschließt und dadurch, dass er vergänglich ist, wieder mit sich mit nimmt.

Was kann denn der Tanz über den Menschen erzählen, was nicht schon Soziologie oder Geschichte in ihrem Repertoire haben?

Da muss man zu einem Beispiel gehen. Es gibt Sätze über den Tanz, die jeder kennt, wie „Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann“. Da geht es nicht einfach um Trauer, auch nicht einfach um einen melancholischen Gefühlszustand, sondern entscheidend ist, dass sich das innerhalb von Bewegungsfiguren abspielt, die in Raum und Zeit Intervalle setzen. Das Verhältnis zwischen Körpern erzählt natürlich auch etwas über Hierarchien und politische Bedingungen. Der Tango stammt ja ursprünglich aus Argentinien, aus der Unterschicht. Das kann man im Diskurs zwar alles nachvollziehen, aber der Tanz vermittelt es auf eine Weise, wie es der Diskurs nie könnte. Die Diskurse laufen dem Tanz hinterher, wenn sie ihn beschreiben.

In den letzten zehn, zwanzig Jahren ist der Tango ja auch wieder sehr präsent geworden. Hat das etwas mit dem Hunger nach dieser anderen Form des Wissens zu tun?

Tango zu lernen ist schon eine Form, das Wissen zu aktualisieren. Das interessiert uns auch auf dieser Tagung, warum diese Form von körperorientierter Erfahrung gesucht wird, die ja ganz anders ist als etwa der Weg ins Fitnessstudio. Tango meint auch eine andere Art von Körperordnung, man unterwirft sich freiwillig Regeln und Steuerungsformen: Was bedeutet das für unsere Form von Individualisierung, wenn der Tango plötzlich wiederentdeckt und ein Trend wird.

Seit den 70er-Jahren gibt es ja viele Formen des Tanzes, die scheinbar regellos schienen. Im Techno und im Rave hat sich das noch mal potenziert und allein durch die Masse der Tanzenden einen anderen Ausdruck bekommen – während zur gleichen Zeit ungefähr die Gesellschaftstänze nach Regeln zurückkehrten. Ist das nicht paradox?

In den 70er-Jahren war es aktuell, sich von den Regeln zu lösen und darauf zu setzen, dass es so etwas wie Authentizität gibt, die direkt aus dem Körper und dem Empfinden kommt. Darin steckte die Behauptung, Bewegung sei nicht codiert und würde nicht irgendwelchen Zeichen- und Ausdrucksschemata, die aus der Kultur kommen, folgen, sondern sei individuell und Natur. Wir wissen natürlich, dass das nicht sein kann, es gibt den Menschen nicht außerhalb seiner Kultur.

Aber der Anspruch und der Wunsch, nicht vollkommen eingegliedert zu sein in Regelsysteme, zeigte sich da eben massiv. Das hat auch die Improvisationskultur in der Tanzszene hervorgebracht, die tatsächlich sehr innovativ war: dialogisch und spontan. Man kann das parallel sehen zu all den Jugendbewegungen und Umwälzungen, die gerade durch so eine Empfindungskultur wie in den Siebzigerjahren hervorgebracht wurden.

Sie waren vorher auf einer Tagung über den Maler Matisse und den Tanz, Sie haben vor kurzem in Weimar einen Vortrag gehalten über den Tanz in der Ästhetik von Schiller und seinen Zeitgenossen – das ist doch neu, dass in allen möglichen Kontexten jetzt auch über den Tanz geredet wird?

Der Tanz hat als Form des Wissens und auch in den Wissenschaften lange eine sehr marginale Rolle gespielt. Die Tagung, zu der wir unter anderem Literatur- und Religionswissenschaftler, Ethnologen, Philosophen und Soziologen eingeladen haben, findet statt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“. Performativität heißt in dem Zusammenhang, es gibt nicht nur einen bewegten Gegenstand – den Tanz –, sondern auch auf der Seite der Beobachtung findet Bewegung statt. Tanz zu beobachten ist eine sehr komplexe Interaktion: dieses prekäre Bewegtsein in den Blicken und im kinästhetischen Mitempfinden und wie sich Bewegung im Anschauen schon verändert, das wird mehr und mehr wahrgenommen als ein wissenschaftstheoretisches Problem. Dies fordert eine Theorie der Aufmerksamkeit.

Wir haben auch einen Physiker dabei. Spätestens seit Heisenberg stellt sich ja die Frage, wie der Beobachter involviert ist. Der Physiker muss sich entscheiden, ob er Bewegung als Teilchen oder als Welle anschaut.

Das normale Bild vom Wissen sieht ja eher so aus, dass Wissen aufeinander aufbaut, sich akkumuliert und immer mehr wird und deshalb auch ein Gebilde von Furcht erregender Komplexität ist. Da reicht ja kein Menschenleben aus, sich das anzueignen. Resultiert daraus auch die Lust auf ein nicht fixierbares Wissen?

Ja. Das Schwinden und das Löschen, durch das Tempo allein schon wieder vergessen machen, was gerade geschehen ist – das sind wichtige Eigenschaften im Tanz. Das Wissen des Tanzes ist nicht systematisch und nicht rein kognitiv. Gerade das zeigt uns die Wichtigkeit von der Veränderlichkeit in der Wiederholung und von den Lücken in unserem Wissen. Dies anschaulich zu machen, darin liegt sein Potenzial.