: „Wir lassen uns nicht verrückt machen“
INTERVIEW MARKUS VÖLKER
taz: Herr Löw, am Freitag werden in Leipzig die Gruppen zur Fußball-WM ausgelost. Ist Ihnen mulmig zumute?
Joachim Löw: Es ist eine große Anspannung da. Ich hätte das gar nicht für möglich gehalten.
Sie könnten es schon in der Vorrunde mit dem starken Team der Niederlande zu tun bekommen. Die sind in der Weltrangliste weit vor den Deutschen platziert.
Wir müssen es nehmen, wie es kommt.
Hat Ihre Mannschaft denn überhaupt eine Chance auf den WM-Titel?
Das Ziel wollten wir uns bewusst hoch stecken. Bei einer WM im eigenen Land geht das gar nicht anders. Beim Confed-Cup haben wir gezeigt, dass wir an einem guten Tag durchaus das Zeug dazu haben, mit den Besten der Welt mitzuhalten. Wir sind überzeugt, dass wir im eigenen Land von einer Welle der Euphorie getragen werden – wenn wir gut in das Turnier starten. Noch einmal: Wir wollen ins Finale kommen und dort gewinnen.
Ist das realistisch nach der durchwachsenen Bilanz?
Alle bisherigen Spiele sind wichtig gewesen, die positiven beim Confed-Cup und auch die schlechten Spiele, die wir gemacht haben.
Die schlechten?
Die jungen Spieler ziehen Erkenntnisse aus dem Auf und Ab. Das gehört zu unserem Konzept. Das war so geplant. Natürlich hätte es passieren können, dass wir uns in der Länderspielpause bis zum März mit Dingen hätten beschäftigen müssen, die uns stark gestört hätten.
Die WM beginnt in gut sechs Monaten – und ausgerechnet jetzt müssen Sie Pause machen. Ist das nicht eine ungünstige Planung?
Wir wären über jedes zusätzliche Spiel froh. Aber schon Ende Januar werden wir die Mannschaft wieder zusammenziehen, um eine mentale Einstimmung vorzunehmen. Im März haben wir zwei Länderspiele. Und dann ist praktisch schon WM-Beginn.
Läuft Ihnen nicht die Zeit davon?
Nein, wir haben den Zeitplan von Anfang an gekannt. Wir befinden uns in einem Umbruch. Den versuchen wir schnellstmöglich abzuwickeln.
Mit welcher Strategie haben Sie sich auf die WM vorbereitet?
Wir sind in zwei Etappen vorgegangen. Im ersten Jahr haben wir uns gesagt: Wir wollen die jungen Spieler integrieren und eine Identifikation des Publikums mit der Nationalelf herstellen. Und wir wollten eine andere Spielweise pflegen, als es bei der EM 2004 der Fall gewesen ist. Das Spiel diktieren, Initiative ergreifen, nach vorn spielen – so lauteten unsere Vorgaben. Im zweiten Abschnitt geht es nun darum, das Gleichgewicht zu finden und die Defensive zu stabilisieren. Es ist doch klar, dass es in einer Zeit des Umbruchs Spiele gibt, die nicht gut sind. Das zeigt uns, dass wir noch in einer Entwicklungsphase sind.
Die allerdings vor einer WM abgeschlossen sein sollte.
Wir haben sehr viel erreicht. Aber die ganz großen Verbesserungen wird es kaum noch geben. Wir müssen kleine Schritte gehen.
Zum Beispiel?
Im Spiel nach vorn. Im Spiel ohne Ball. In der Kompaktheit und Systematik.
Das klingt nach einem sehr ehrgeizigen Programm.
Dazu gehören auch Standardsituationen. Diesen Bereich wollen wir erst kurz vor der WM angehen, weil wir gemerkt haben, dass es keinen Sinn macht, zu viele Dinge auf einmal anzupacken. Die Übungen müssen passen, wenn die WM losgeht.
Legen Sie wirklich so viel Wert auf Persönlichkeitsbildung, wie man derzeit hört?
Persönlichkeitsbildung ist mindestens genauso wichtig wie die Fitnesstests, die wir durchgeführt haben. Die Spieler sollen nicht zu Länderspielen kommen und nur ihr Programm runterreißen. Sie sollen die Zusammenkünfte als Bereicherung empfinden.
Und das klappt?
Es hat uns überrascht, dass die junge Generation so aufnahmebereit ist. Sie ist offen für neue Wege. Die Spieler kommen auf die Trainer, den Sportpsychologen und die Fitnesscoachs zu und fragen, wie sie essen, schlafen oder trainieren sollen. Viele Spieler sind noch nicht bei ihrem Leistungsoptimum angekommen. Also müssen sie an sich arbeiten – und zwar nicht nur auf Anweisung. Wir bieten ihnen eine große Palette mit verschiedenen Bausteinen an.
Und die Spieler müssen nur noch zugreifen.
Zum Angebot gehört auch, dass wir Experten zu uns einladen: den Extremsportler Stefan Glowacz oder einen Unternehmensberater. So lernen die Jungs, wie schwierige Situationen zu bewältigen sind.
Und das hilft dann bei der WM?
Wir wollen den Spielern insgesamt ein Gefühl der Sicherheit geben. Wir sind ja nicht in der Lage, Brasilien technisch an die Wand zu spielen. Also müssen wir in erster Linie ein gutes Team sein mit einer guten Organisation, Physis und Begeisterungsfähigkeit. Wir haben haben keine Ronaldinhos. Wir müssen mit anderen Mitteln dagegenhalten.
Mit den altbekannten deutschen Tugenden?
Wichtig ist, dass die Gruppe auf ein Ziel zusteuert. An einem Strang zieht. Nur gemeinsam schaffen wir es.
Was sind die taktischen Neuerungen, mit denen Sie bei der WM überraschen wollen?
Wichtig ist, bei Ballgewinn schnell umzuschalten und für Torgefahr zu sorgen. Es ist schwierig, wenn die Verteidiger geschlossen hinter dem Ball stehen. Selbst kleine Nationen, Lettland oder Island, haben gelernt zu zerstören.
Also geht es darum, den Gegner zu überrumpeln?
Der Gegner darf keine Zeit haben, sich zu organisieren. Außerdem müssen wir gegnerische Topspieler so bearbeiten, dass sie keine Zeit haben, auch nur eine gute Idee zu entwickeln. Gegen die Slowaken und Türken haben wir das nicht gut gemacht. Ganz anders gegen Frankreich.
Was war da besser?
Mit enormer Einsatzbereitschaft wurden Zweikämpfe im Mittelfeld ausgetragen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Daran sieht man, dass man Topstürmer wie den Henry oder den Trezeguet ausschalten kann.
Es wurde immer wieder bezweifelt, dass Klinsmann von Kalifornien aus strategisch wirken kann. Waren Sie überrascht über die heftige Debatte?
Die Situation ist nun mal so. Und wir haben unsere Arbeit absolut im Griff. Wir wissen über jeden alles. Und wenn der Jürgen so ein bisschen aus der Vogelperspektive agiert, dann ist das doch von Vorteil. Wir vernachlässigen die Arbeit nicht. Wir wissen bis ins Detail über die Spieler Bescheid, bis ins Detail.
Sie strahlen gemeinsam mit Klinsmann eine große Selbstgewissheit aus. Wie kommt’s?
Wir haben unser Konzept nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt. Nein, wir haben uns über Tage und Wochen Gedanken gemacht. Wir waren uns relativ schnell einig: Es wird Widerstände geben, Leute, die nur auf Fehler warten, ja lauern. Aber das wird uns nicht von unserer Linie abbringen. Von der sind wir 100-prozentig überzeugt. Wir lassen uns nicht verrückt machen. Das Grundgerüst steht. Daran gibt es nichts zu rütteln.
Das Grundgerüst haben Klinsmann und sein Geschäftspartner der amerikanischen Beratungsfirma SoccerSolutions in vielen Gesprächen gezimmert. Stehen Sie auch mit diesem Braintrust in Kontakt?
Nein. Jürgen hat Leute um sich, die ihm helfen im Bereich Führung und Teambildung. Wir sind ja nicht beratungsresistent. Von außen sieht man Fehler besser.
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Klinsmann beschreiben?
Es ist geprägt von unerbittlichem Vertrauen und absoluter Loyalität. Auch geprägt von Werten wie Seriosität, Ehrlichkeit, Respekt. Wir haben ähnliche Vorstellungen davon, wie Fußball gespielt werden soll, wie sich der Fußball in Deutschland entwickeln oder wie die Nachwuchsarbeit aussehen soll.
Wird Ihr Schicksal mit dem Klinsmanns verbunden sein, wenn eine Vertragsverlängerung ansteht?
Wir lassen uns an der WM messen. Wir können uns vorstellen, viel tiefer in den DFB hineinzuwirken. Aber jetzt machen wir uns keine Gedanken um eine Vertragsunterschrift.
Angenommen, Sie würden nicht über die WM hinaus im DFB-Stab tätig sein, was würden Sie aus dieser Zeit mitnehmen?
Für mich, der als Vereinstrainer tätig war und immer einen Standort hatte, ist die jetzige Situation vorteilhaft. Ich sehe viele Spiele im Ausland, betrachte neue Entwicklungen, sehe Partien aus einer anderen Perspektive, beobachte etwa einen Spieler mal speziell über 90 Minuten. Ich spüre außerdem eine unglaubliche Energie, ein Feuer in der Teamarbeit. Wir reden, diskutieren, entwickeln Ideen. Das ist schon faszinierend. Jürgen gewährt seinen Mitarbeitern enorm viel Freiraum.
Na dann, frohes Schaffen im WM-Labor des DFB?
Ja, wir haben ein Entwicklungslabor. Jeder Mitarbeiter ist aufgefordert, 24 Stunden am Tag Ideen einzubringen.