Wissenschaftlerin über Pädophiliedebatte: „Jede Zeit hat ihre blinden Flecken“

Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker über die aktuelle Aufarbeitungswut, vergangene Debatten und neue Tabuzonen.

„Debatte mit Tunnelblick“ – oder vielleicht einfach nur Wahlkampf? Mitglieder der Jungen Union demonstrierten in Stuttgart gegen die geplante Vergabe des Theodor-Heuss-Preises an den Grünen Daniel Cohn-Bendit. Bild: dpa

taz: Frau Becker, Sie sagen, die Berichte über „pädophile Verstrickungen“ der Linken und Grünen in den 70ern und 80ern hätten Sie „geärgert“. Warum?

Sophinette Becker: Zum einen ärgert mich, wie ein Diskurs mit einer Praxis gleichgesetzt wird. Zum anderen, wie dekontextualisiert argumentiert wird: Dem damaligen Diskurs der sexuellen Befreiung werden die Bedeutungen des heutigen Diskurses unterstellt. So heißt es, man habe damals Pädosexualität gut gefunden und sexuellen Missbrauch verherrlicht. Kein Mensch hat damals diese Worte benutzt. Diese Debatten fanden erst in den 80er Jahren statt. In den 60er und 70er Jahren ging es um sexuelle Befreiung, die als Mittel der Befreiung von Herrschaft überhaupt verstanden wurde. Das war aus heutiger Sicht naiv, denn herrschaftsfreie Sexualität gibt es nicht.

Es ging aber um Pädophilie.

Schon, aber nur sehr am Rande, und die meisten wussten nicht genau, was sie damit meinen. Natürlich gab es schon Texte wie Sandor Ferenczis Aufsatz aus den 30er Jahren über die Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind, der bereits das Wichtigste über den fundamentalen Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität und damit über deren prinzipielle Inkompatibilität gesagt hat – die auch dann gegeben ist, wenn sich Kinder mit ihren kindlichen Verführungswünschen an den Erwachsenen wenden. Aber in der Studentenbewegung las man Wilhelm Reich. Oder man tat so. Den Spruch „Lest Wilhelm Reich und handelt danach“ brüllten auch viele, die ihn nie gelesen haben. Es gab viel Verbalradikalismus.

Sollte man Äußerungen von damals also nicht auf die Goldwaage legen?

Schon, aber eben im historischen Kontext und nicht in dem von heute.

Im Rückblick: Wie umfassend war die Befreiung?

In vielem enorm – aber man darf nicht nur das Emanzipatorische dabei sehen, sondern auch die ökonomischen und politischen Interessen. Es gibt eine Dialektik der sexuellen Befreiung: Sexuelle Liberalisierung kann und wird immer auch vermarktet und als Herrschaftsinstrument missbraucht, das wusste schon Aldous Huxley.

Hat die sexuelle Revolution die Kinder auf dem Gewissen? Oder ist die heutige Aufregung über frühere Pädophiliefreundlichkeit hysterisch? Die taz will das Damals nicht nur aus dem Heute verstehen. Und blickt deshalb mit einem Dossier zurück: Auf Wilhelm Reich, Befreiungsdiskurse und Kommunen-Experimente. Und auf das Erbe der Befreiung. Die Ausgabe im eKiosk.

Wurde die neue Freiheit von Pädophilen missbraucht?

Es hat sicher in Teilen der Linken eine zu große Toleranz gegenüber den Argumenten mancher pädophiler Ideologen gegeben. Die Abgrenzung mag zu spät stattgefunden haben: Aber sie hat stattgefunden! Aus verbalen Äußerungen eine Praxis abzuleiten, ist unzulässig. Wenn ich heute vom „Bischof Trittin“ lese, dann stört mich das! Da wird so getan, als sei die grüne Partei eine Organisation, in der massenhaft Missbrauch stattgefunden habe. Den hat es nicht gegeben – wohl aber in kirchlichen Institutionen und in anderen geschlossenen Systemen wie der Odenwaldschule.

Lange war die Ansicht verbreitet, dass Kindern gewaltfreier Sex mit Erwachsenen nicht schade. Wie kam das?

Das hat bei den Anhörungen für die Strafrechtsreform 1970 noch die Mehrheit der geladenen Sachverständigen vertreten. Es gab damals nicht viele empirische Studien. Unter Gewalt verstand man ausschließlich körperliche Misshandlung. Subtilere Formen der psychischen Manipulation oder die strukturelle Gewalt in Abhängigkeitsbeziehungen hat man nicht berücksichtigt. Das galt auch für andere Bereiche: Denken Sie daran, wie lange Vergewaltigung in der Ehe nicht geahndet wurde – da greift man sich heute an den Kopf. Das würde ich aber heute niemandem mehr vorwerfen. Manche Elemente innerhalb der „Pädodebatte“ waren aber auch richtig.

,Jahrgang 1950, ist Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Bis 2011 leitete sie die Sexualmedizinische Ambulanz der Uniklinik Frankfurt. Als Sexualwissenschaftlerin ist sie spezialisiert auf Forschung zur Geschlechtsidentität und Behandlung sexueller Störungen.

Welche denn?

Die Diskussion um das Schutzalter war überfällig. Warum sollten Jungen länger geschützt werden als Mädchen, der Verkehr zwischen einem 17- und einem 19-jährigen Homosexuellen strafbar sein? Da hängten sich manche dran, die auf komplette Abschaffung der Altersgrenzen hofften. Dazu kam es zum Glück nicht.

Finden Sie die aktuelle Aufarbeitungsdebatte überflüssig?

Nein, aber mich stört daran das heute so beliebte Enthüllungspathos und der Tunnelblick. Dimensionen, die ich für die Zukunft wichtig finde, werden zu wenig betont. Kindliche Sexualität wird nur als missbrauchte diskutiert. Gleichzeitig werden Kinder durch die Werbung in hohem Maße sexualisiert: Es gibt Tangas für Dreijährige! Die „Pinkifizierung“ der Kindheit macht aus kleinen Mädchen sexualisierte Jugendliche. Diese Tendenzen muss man problematisieren, wenn man sexuellen Missbrauch verhindern will.

Wir sind heute also mehr pädo als die 68er, wollen es aber nicht wahrhaben?

In gewisser Hinsicht schon. Selbstgerechtigkeit ist nicht angebracht: Jede Zeit bringt ihre eigenen blinden Flecken hervor.

Wo fehlt es Ihrer Meinung nach an Differenzierung?

Nur eine von vielen: Ich unterscheide zwischen denen, die sexuell auf präpubertäre Kinder oder Jugendliche zu Beginn der Pubertät fixiert sind, und denen, die ohne eine solche Fixierung Kinder sexuell ausbeuten. Letztere sind die Mehrheit. Der meiste sexuelle Missbrauch findet immer noch in Familien statt – durch Väter, die ebenso wenig fixierte Pädosexuelle sind wie viele missbrauchende Priester. Auch bei den zahlreicher werdenden Kinderpornografie-Konsumenten ist nur ein kleiner Prozentsatz pädosexuell fixiert. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Problem mitten in der Gesellschaft liegt. Es gibt heute viele, die sich klein und ohnmächtig fühlen, die sich in „Krisen der Männlichkeit“ virtuell oder real an Kindern vergreifen, um sich potent zu fühlen.

Kinderpornografie als Begleiterscheinung des globalisierten Kapitalismus?

Pornografie gehört heute zur Massenkultur. Und es gibt keine Utopien mehr, die Menschen haben das Gefühl, nichts mehr gestalten zu können. Man kann sich im Internet bewegen und seinen Körper verändern – mehr bleibt kaum. Meine StudentInnen sagten mir oft: Glauben Sie bloß nicht, dass all das Reden über Sex bedeutet, dass wir heute freier sind. Es ist mit der Sexualität nicht leichter geworden, sondern anders.

Inwiefern?

Die Unfreiheiten sind andere. Kein Jugendlicher hat mehr Angst vor Rückenmarksschwund beim Onanieren. An die Stelle von Gewissensängsten sind narzisstische Ängste getreten, vor Zurückweisung oder vor dem Versagen.

Wir sind also nicht so befreit, wie wir gerne glauben würden?

In manchem sind wir es. Auf der anderen Seite erleben wir gerade wieder einen neuen Rollback, eine neue negative Mystifizierung der Sexualität.

Sie meinen eine neue Prüderie?

Selbst in Fachkreisen wird kindliche Sexualität nur noch in Zusammenhang mit Missbrauch diskutiert. Es gibt eine Hysterie: Männliche Erzieher, die wir dringend brauchen, trauen sich nicht mehr, einen Jungen in den Arm zu nehmen. Nur um nicht in Verdacht zu kommen. Das Familienministerium hat eine jahrelang verwendete Aufklärungsbroschüre zurückgezogen – ich konnte darin keinerlei Aufforderung für Pädosexuelle erkennen.

In den Siebzigern wollte man dagegen kindliche Sexualität fördern – war das besser?

Ein großer Irrtum der 68er war, dass man Kinder aktiv dazu ermuntern soll, sich sexuell auszuprobieren. Das machen sie von ganz alleine, wenn sie ungestört sind. Ich hatte in der letzten Zeit öfter Anrufe von Frauen, die berichteten, dass ihr Mann beim Baden mit der Tochter eine Erektion hatte. Dass ihm das passiert, ist kein Anzeichen für Pädosexualität. Denn wir sind sexuell empfänglich für Kinder, wir reagieren auf ihre kindliche Sexualität mit unserer erwachsenen Sexualität, das muss man als Fakt akzeptieren. Entscheidend ist, was man damit macht. Wenn sich der Vater mit seiner Erektion aus der Badewanne zurückzieht, ohne das Mädchen zurückweisend zu kränken, dann ist das okay. Ein Problem gibt es nur, wenn er anfängt, mit der Erektion sexuell zu agieren, den Unterschied zwischen erwachsenem Begehren und kindlichen sexuellen Wünschen nicht wahrt. Wir haben die Möglichkeit, als Erwachsene „zielgehemmt“ zu reagieren. Das wird heute auch dadurch erschwert, dass die Grenze zwischen den Generationen immer mehr verschwimmt. Jugendliche brauchen aber sowohl die Ablösung als auch die Identifikation mit den Eltern, um ihre Persönlichkeit und eine erwachsene Sexualität entwickeln zu können.

Ziehen wir eine Generation von sexuell Gestörten heran?

Nein. Ich will damit nur klarmachen, dass unsere sexuellen Identitäten auch immer gesellschaftlich geprägt sind. In der Geschichte wechselt periodisch die Feier der Lüste ab mit Phasen der Verteufelung. In den Zwanzigern gab es in den Großstädten schon einmal libertäre Verhältnisse, mit einer gewissen Toleranz für Homosexualität. Im Nationalsozialismus wurden die Homosexuellen verfolgt und sexuelle Tabus wurden repressiv verstärkt, zugleich wurden alle sexuellen Tabus gebrochen, wenn es um rassistische oder bevölkerungspolitische Ziele ging. Nach 1945 herrschte sexuelle Repression, dann kam die sexuelle Liberalisierung. Gegenwärtig haben wir einerseits eine Sexualisierung des öffentlichen Raums, und zugleich greift die Lustlosigkeit um sich: Manche sprechen von „Postsexualität“.

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