: Rund geschliffener Edelstein
GROSSES POP-KOLLEKTIV Rund um die Band Station 17 ist ein einzigartiges inklusives Netzwerk professioneller Kulturproduzenten entstanden. Dessen neustes Projekt Kollektiv Barner 16 präsentiert über 30 Musiker in immer neuen Konstellationen
VON ROBERT MATTHIES
Eigentlich wollte Kay Boysen sein Geld als Musiker verdienen, damals, Anfang der 80er, irgendwo zwischen Can und Velvet Underground. Aber leben ließ sich davon nicht. Nach dem zweiten Album seiner Band Painless Dirties war Schluss. Und Boysen entschloss sich, etwas Handfestes zu machen: eine Ausbildung als Erzieher.
Ganz ohne Musik ging auch das zum Glück nicht. 1988 gründete Boysen mit Bewohner_innen der Wohngruppe 17 der Stiftung Alsterdorf, in der er damals gearbeitet hat, und professionellen Musikern die Band Station 17. Der große Unterschied zu den meisten anderen inklusiven Projekten: Station 17 gingen den Schritt in die Professionalität, verkauften Platten, gaben Konzerte und entwickelten jenseits jeglichen Gutmenschen-Gestus eine ganz eigene Klangästhetik.
Mit großem Erfolg. Schnell standen Kollaborationen mit einer ganzen Reihe von Elektronik- und Hip-Hop-Künstlern auf dem Programm, in den 90ern arbeitete Station 17 mit renommierten Produzenten wie Holger Czukay (Can), F. M. Einheit (Einstürzende Neubauten) oder Thomas Fehlmann (Kompakt-Label, The Orb) zusammen, ihren zwanzigsten Geburtstag feierte die ungewöhnliche Band schließlich mit den den opulenten „Goldstein Variationen“: Mit über 30 Gastmusikern hat die komplett neu zusammengesetzte Band dabei zusammengearbeitet, von Fettes Brot über Guildo Horn, Stereo Total, Ted Gaier und Melissa Logan bis zu Michael Rother und Schneider TM. Aus dem Projekt ist im Verlauf der Jahre eine Band geworden, die auch ohne Verweis auf die Handicaps einiger ihrer Mitglieder ernst genommen und auch von der Musikpresse viel gelobt wird. Das letzte Album „Fieber“ etwa darf man mit seiner unmittelbaren Krautrockigkeit mit gutem Gewissen eine der wichtigsten Platten des Genres in den letzten Jahren nennen.
Teil von Station 17 ist Boysen heute nicht mehr. Denn rund um die Band ist im Verlauf der Jahre etwas Bemerkenswertes und Einzigartiges entstanden. Heute ist Boysen Leiter des in einem zweistöckigen Haus im Hinterhof der Ottensener Barnerstraße 16 angesiedelten Netzwerks Barner 16, einer Betriebsstätte der Alsterarbeit, in der rund 80 feste und freie Mitarbeiter mit und ohne Handicaps professionelle Kulturproduktion betreiben. Etliche Bands wie Station 17, das Jazzprojekt Turiazz, die Rockband Assistenzbedarf oder die Coverband The Living Music Box proben und nehmen ihre Musik hier auf, andere entwickeln Bühnenstücke und multimediale Performances, drehen Kurzfilme und Musikvideos, bedrucken Textilien, malen Gemälde, machen Klangkunst. Ein eigenes Label, eine Bookingagentur und ein Digitalisierungsstudio gibt es längst auch, seit kurzem auch eine Literaturwerkstatt.
Wie professionell dabei die Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks geworden ist, kann man nun auf dem neusten Streich aus der Barnerstraße hören. Kollektiv Barner 16 nennt sich das Projekt, an dem über 30 Musiker_innen aus allen Bereichen des Hauses in immer neuen Konstellationen im letzten Jahr gearbeitet haben. Morgen erscheint das erste Album, der Release wird heute Abend mit einem Konzert im Hafenklang gefeiert.
Unter der Leitung von Alexander Tsitsigias, (Station 17, Das Bierbeben, Kommando Sonne-nmilch), Christian Fleck (Station 17) und Kevin Hamann (ClickClickDecker, Bratze) sind sechzehn ganz unterschiedliche Stücke entstanden, von elegischen Indie-Hymnen über krachigen Punk, verspielt-krautrockige Elektronik und kleine Pop-Perlen bis zu arschcoolem Funk und Hip-Hop. Viel mehr als nur eine Ansammlung von Momentaufnahmen ist das geworden: Ein bemerkenswert rund geschliffener Edelstein aus einer der spannendsten Musikminen dieser Stadt.
■ Do, 21. 3., 21 Uhr, Hafenklang, Große Elbstraße 84