Städtebau in Berlin: "Die Armen rücken zusammen"
Neue Lebensformen machen die Stadt attraktiver, sagt Architektursoziologe Harald Bodenschatz.
taz: Herr Bodenschatz, Sie sagen, die Kampflinie zwischen Arm und Reich verlaufe heute quer durch die Berliner Hinterhöfe. Was meinen Sie damit?
Harald Bodenschatz: Jedem, der früher im dritten Hinterhof wohnte, war klar, dass er weniger privilegiert war, dass er eine geringere Miete zahlte und einem eindeutigen sozialen Milieu zuzuordnen war. Nicht nur zwischen Vorder- und Hinterhaus trennten sich die Milieus, auch ob man im ersten oder im vierten Stock wohnte, verwies auf einen bestimmten sozialen Status. Lange galten die Mietskasernenquartiere aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als das Schlimmste, was man bauen konnte. Heute gelten die Höfe nicht mehr als Orte der sozialen Verelendung und Dunkelheit, sondern als grüne Gartenhäuser ohne Abgase und Straßenlärm. Die Mittelschichten kehren in die Innenstädte zurück. Wenngleich nur dorthin, wo die baulichen und städtebaulichen Qualitäten stimmen.
Welche Ursachen hat das?
Vor allem die veränderten Lebensformen. Wenn wir alle paar Jahre den Job wechseln müssen, sollten wir nahe der informellen "Jobbörse" in den Innenstädten leben. Auch arbeiten wir nicht mehr zwischen 9 und 17 Uhr, sondern, wenn ein Projekt fertig werden muss, auch bis 22 Uhr und länger. Und dann wollen wir noch etwas essen, aber zu Hause wartet nicht mehr eine Frau, die für den Mann kocht. Die Singlegesellschaft als Ausdruck weniger langfristiger Paarbeziehungen ist gezwungen, sich zwecks Partnerschau ständig auf der innerstädtischen Bühne zu präsentieren. Dazu kommen die immer längeren Zeiten der Ausbildung, die eigentlich nie aufhören.
Nur eben nicht für die Ärmeren.
geboren 1946, ist emeritierter Professor für Architektursoziologie an der TU Berlin und Stadtplaner.
Für den sozialen Zusammenhalt Berlins wird es zum Problem, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr öffnet und sie sich auch räumlich immer weiter entfernen. Solange die Armen noch in den Innenstädten präsent sind, gibt es wenigstens einen Diskurs über bessere Lebensverhältnisse für alle. Sind die Armen erst in die Außenbezirke vertrieben, interessieren sich selbst die oppositionellen Diskurse wenig für sie.
Was kann die Politik gegen die Verdrängung der Armen tun?
Sie hat das Problem erkannt, aber die Lösungen sind kurzatmig. Selbst Mietpreisbindungen über 25 Jahre bringen aus stadtentwicklungspolitischer Sicht wenig. Es bedarf dauerhafter Bindungen für einen Teil des Wohnungsbestands über den genossenschaftlichen Wohnungsbau hinaus. Es müssen andere Gebiete attraktiv gemacht werden, die Urbanisierung der Peripherie ist eine wichtige Aufgabe der Zukunft. Unsere Mittelschichten haben einen enorm gestiegenen Wohnflächenkonsum. Da er sich innerhalb der letzten 50 Jahre etwa verdoppelt hat, musste die ganze Stadt noch mal gebaut werden, nur um die vorhandene Einwohnerzahl zu befriedigen. So rücken die Armen immer enger zusammen, und die Bessergestellten breiten sich aus.
Der Konflikt um die Bebauung des Tempelhofer Felds ist die aktuelle Bühne für stadtpolitische Diskussionen. Wie stehen Sie dazu?
Mich ärgert zunächst, dass es in dieser Frage kein Gedächtnis gibt. Um das Tempelhofer Feld drehte sich vor dem Ersten Weltkrieg eine riesige Berliner Diskussion. Der Militärfiskus wollte die Flächen zum maximalen Preis an ein Konsortium aus Terraingesellschaften, Kommunen und Großbanken veräußern, damals angeblich der größte Immobiliendeal der Weltgeschichte. Der Teil westlich vom Platz der Luftbrücke wurde bebaut. Kritisiert wurde damals vor allem, dass der Staat zum Bau von Mietkasernen nötigt. Dann stoppte der Krieg alles, danach entstand dahinter die Gartenstadt Tempelhof, das einzige suburbane Wohnviertel innerhalb des S-Bahn-Rings. Viel öffentliches Geld wurde hier für die gehobene Mittelschicht ausgegeben. Ein Pyrrhussieg über das Mietskasernensystem.
Und heute?
Werden wie damals die Verhältnisse schwarz-weiß gemalt. Das erschwert jede Diskussion. Man muss viel deutlicher fragen: Wem nützt was, wem schadet es? Bauflächen auszuweisen ist sicher nicht ausreichend, dagegen zu sein aber auch nicht. Nach 1989 gab es in der Stadt noch den Grundsatz "Ein Drittel sozialer Wohnungsbau, ein Drittel gefördert, ein Drittel frei finanziert". Das scheint alles vergessen. Auch Genossenschaften und Baugemeinschaften könnten hier wichtige Akteure sein.
In Ihrem Buch fordern Sie, neue, sozial verträgliche Antworten auf die neue Wohnungsfrage zu finden.
Kaum eine Stadt hat so viel Erfahrung mit sozialer Wohnungspolitik wie Berlin. Hier hat man über hundert Jahre erlebt, was im Namen des Sozialen gebaut und abgerissen wurde, was langfristig funktioniert, was nicht. Im Augenblick beginnt wieder eine hektische Diskussion über neuen Wohnungsbau ohne jede Erinnerung, als hätten wir nur eine Zukunft vor uns und keine Vergangenheit hinter uns. Es muss eine gesellschaftliche Diskussion darüber geführt werden, wie Mindeststandards gesichert werden können, wie eine funktionale Mischung erhalten oder erreicht werden kann. Wir brauchen einen großen Stock von Wohnungen mit dauerhafter Mietpreisbindung in allen Teilen der Stadt, damit Berlin möglichst auch sozial durchmischt ist. Wir müssen akzeptieren, dass es unterschiedliche Lagen und unterschiedliche Wohnungen gibt, ohne Diskriminierung damit zu verbinden. Das ist eine große Herausforderung. Aber sonst landen wir wieder bei den gleichartigen Wohnungen mit vier Geschossen aus den 50er Jahren. Eine egalitäre Bauweise in einer nicht egalitären Gesellschaft bedeutet soziale Segregation.
Wovon kann Berlin in Zukunft leben?
Zuerst muss man unterscheiden zwischen Möchtegern und Realität. Öko, kreativ, innovativ sein, das wollen alle. Eine große Rolle spielen in Berlin sicher der Tourismus, die Wissenschaftseinrichtungen, die auch ein ökonomischer Faktor sind, und die Gesundheitsindustrie. Dazu kommt die Bedeutung als Hauptstadt; auch innerhalb der EU wird Berlin immer wichtiger. Zukunftsträchtig ist das komplexe Feld der neuen Mobilität.
Was sind aktuell die wichtigsten Entwicklungen in Berlin?
Wirklich bedeutend für die Zukunft Berlins finde ich die Weichenstellungen bei den Großprojekten der Infrastruktur - das sind Jahrhundertveränderungen. Die Neustrukturierung des Eisenbahnverkehrs - Neubau von Hauptbahnhof und Südkreuz, Herabstufung von Ostbahnhof und Bahnhof Zoologischer Garten - ist nahezu abgeschlossen. Eine stadträumliche Revolution, die Berlin noch nicht angemessen genutzt hat. Jetzt kommt, wann auch immer, die Neustrukturierung der Flughäfen hinzu. Die bereits erfolgte Stilllegung von Tempelhof und bald auch die von Tegel wird vieles verändern. Die Dynamik wird sich nach Süden verschieben, in das Dreieck zwischen Schönefeld, Mitte und Potsdam. Der bisherige Ost-West-Gegensatz wird überlagert von einem Nord-Süd-Gegensatz. Man sieht das bereits daran, dass Neukölln sich stärker verändert als der Wedding.
Das Buch: Harald Bodenschatz, "Städtebau in Berlin. Schreckbild und Vorbild für Europa". 176 Seiten, DOM publishers
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