: Authentischer Antifamilialist
Mit 91 Jahren verstarb Georg Höge, ein Bremer Künstler, der sich nicht darum scherte, wenn seine Objekte im Garten vermoderten. So versuchte er dem Spießertum zu entrinnen
ein Nachruf von Helmut Höge
Am 15. Oktober starb Georg Höge 91-jährig im Kreiskrankenhaus von Osterholz-Scharmbeck. Der am 14. Juli 1914 in Bremen-Woltmershausen geborene Künstler war mein Vater. Zwei für mich vorbildlich gewordene Eigenschaften zeichneten ihn aus: sein Antifamilialismus und eine konsequente Abkehr vom Kunstbetrieb.
Ersteres hatte er mit meiner im Ostertorviertel geborenen Mutter gemeinsam. Sie stammten beide aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, sie war beim BDM, er an der Ostfront gewesen, nach dem Krieg studierten sie an der Bremer Kunstschule, wo sie sich kennen lernten. Die Kunst war für sie ein sozialer Aufstieg, der mit einem Wechsel von Bluts- zu Wahlverwandtschaften einherging, das heißt sie verkehrten fortan vor allem in Künstlerkreisen und suchten den Kontakt zu Architekten, Galeristen usw. Meine Mutter war dabei erfolgreicher als mein Vater, der jedoch durch Vermittlung von Oskar Kokoschka, dessen Salzburger Sommerschule er besuchte, Dozent an der Bremer Kunstschule wurde, was er auch bis zu seiner Pensionierung Mitte der 70er-Jahre blieb.
1959 waren meine Eltern aufs Land gezogen – ins „Radmoor“ zwischen Bremen und Bremerhaven. Ein paar Jahre später fingen sie an, aus der kleinen Datsche dort ein richtiges Haus zu bauen – aus Holz, Flaschen und Reit.
1970 beging meine Mutter Selbstmord – mein Vater und ich gaben uns gegenseitig die Schuld dafür. Fortan ließ er sein ganzes Kunstschaffen in den Hausbau einfließen – und zog sich immer mehr ins Radmoor zurück. Er vereinsamte jedoch nicht, im Gegenteil: Mehr Leute als zuvor, Freunde, Studenten und Nachbarn, besuchten ihn dort.
Ich kam ein- oder zweimal im Jahr vorbei, wir saßen dann meist auf der blumenumrankten Veranda und tranken Tee, in der übrigen Zeit telefonierten wir miteinander oder schrieben uns Briefe. Er unterstützte mich – auch und vor allem finanziell, wobei er meine Abwendung vom Wissenschaftsbetrieb zugunsten einer Beschäftigung in der Landwirtschaft ebenfalls begrüßte. Nicht weil er die (Land)Arbeiter und Bauern für sozialer oder menschlicher als die Künstler und Intellektuellen hielt, sondern wegen des damit zwangsläufig verbundenen Wechsels von der Kopf- zur Handarbeit.
Schorse, wie ich ihn allerdings nie nannte, schätzte das Handwerk hoch ein, das damit einhergehende „Spießertum“ meinte er mit anarchisch-künstlerischen Mitteln vermeiden zu können. Frauke, seine zweite Frau, ebenfalls eine Künstlerin, teilte diese Meinung. Vor dem Krieg hatte er eine Malerlehre absolviert, die er ebenso wie den Militärdienst gehasst hatte. Dennoch bekam er dadurch das Malerhandwerk von Grund auf mit, weitere handwerkliche Fähigkeiten erwarb er an der Kunstschule, wo ihm alle möglichen Werkstätten zur Verfügung standen und der kundige Hausmeister Fiegut half. Später war es der Bildhauer Fritz Stein, der Frauke und Schorse in seinem Atelier das Schweißen beibrachte.
Zuletzt arbeiteten die beiden jedoch vornehmlich mit Beton: Mosaike mit Porträts ihrer Freunde und immer größer werdende Plastiken, die in die wild wuchernde Vegetation des Grundstücks gestellt, und fast ausschließlich mit Fundstücken und nahezu kostenlos besorgten Materialien bestückt waren. Daneben malten und zeichneten sie. Viele Objekte und auch Teile des Hauses zerfielen mit der Zeit durch Nässe und Frost, sie waren also handwerklich wenig solide, aber das störte die beiden nicht, ebenso wenig, dass einige ihrer Werke einfach überwuchert wurden und dadurch quasi verschwanden. Wenn es stimmt, dass das kleinbürgerliche Denken im wesentlichen praktisch ist, dann hat Schorse es schon sehr früh mit unpraktischen Ideen bekämpft.
Anfang der Fünfzigerjahre hatten meine Eltern als SPD-Mitglieder eine Atelierwohnung in einem Neubauviertel am Überseehafen zugewiesen bekommen, in die sie zunächst ihre ganze Kreativität reinsteckten, sodass am Ende ein Fotobericht darüber in der damals gerade herausgekommenen Zeitschrift „Schöner Wohnen“ erschien. Es war auch eine schöne Atelierwohnung – mit schrägen Wänden, aber gänzlich unpraktisch eingerichtet. Man brauchte zum Beispiel bloß ein Buch vom Regal zu nehmen, das mein Vater aus Kupfer und Glas in der Kunstschule konstruiert hatte, schon kippten alle Bücher auf den Fußboden.
Der Hang zum Unpraktischen wurde nicht zuletzt dadurch zu einer Art Arbeitsprinzip, dass man ihn damals zum Hauptverantwortlichen für das jährliche Faschingsfest „Aladin“ in der Kunstschule machte. Unter seiner Leitung wurden die Dekorationen und Umbauten in den Gebäuden am Wandrahm immer aufwendiger. Ich erinnere mich an motorgetriebene bewegliche Tanzflächen und leise murmelnde Spiegelkabinette. Der eigentlich nie fertig gewordene Bau des Hauses auf dem Land war im Grunde eine Fortsetzung der Ausgestaltung des „Aladin“-Festes in Permanenz. Und auch im Radmoor fanden später noch etliche Tanzfeste von Kunststudenten und Künstlern statt.
Die Kunstschule gehörte mit dem Goethetheater zu den Institutionen, die sich ab 1967 an der Studentenbewegung, die in Bremen eine Schülerbewegung war, beteiligte. Während dabei der sozialistische Realismus Einzug in die Kunstschule hielt, gelang es einigen Dozenten, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, damit sich an ihrem distanzierten Lehrerverhältnis zu den Kunstschülern nichts änderte.
Im Gegensatz zu mir durchschaute mein Vater diese Manöver. Er selbst blieb gleich bleibend solidarisch, mit gutem Gewissen eigensinnig und klebte weiter seine abstrakten schwarz-braunen Bilder aus verbrannten Papierschnipseln. Einige wurden zu Entwürfen für Kirchenfenster, in der Neuen Vahr zum Beispiel, wobei er die farbigen Gläser jedoch nicht in Blei, sondern in Beton einfassen ließ. Im Radmoor beteiligte er sich an einer Bürgerinitiative gegen den Bau einer Panzertrasse durch den Wald und in Bremen an einigen Künstleraktionen. Als Otto Muehl während einer Performance in der Aula der Bremer PH einige Hühner schlachten wollte, schlich er sich hinter die Bühne und entführte sie in seinem VW.
Diese Aktion hatte jedoch noch einen anderen Hintergrund, der für alle in unserer Familie galt und gilt: die Tierliebe. Schon in der Bremer Atelierwohnung hatten wir Hund und Katze, Kaninchen und Eidechsen, Vögel und Fische gehalten. Auf dem Land schenkte ich meinem Vater einmal einen Ziegenbock zum Geburtstag, obwohl wir derlei Feiertage an sich nicht groß hervorhoben. Eine Zeit lang war ein Spatz sein Lieblingstier, später zwei Enten, die wir in der Dusche großgezogen hatten, und dann immer wieder Boxer, einige hat er auch gemalt. Zuletzt war es wie am Anfang wieder ein Dackel: Moritz, er lebt immer noch. Auch diese ganzen Tiere trugen zur Entspießerung bei, indem sie viel Lärm und Dreck machten und so ziemlich alles durften beziehungsweise sich selten an irgendwelche Verbote hielten. Meine Mutter hatte in den Fünfzigerjahren gemeint: Die Tiere müssen es warm haben und immer genug zu fressen – bei dieser minimalistischen (Erziehungs)Maxime blieb es im wesentlichen. Für das Essen reichte die Rente, das Holz zum Heizen kam fast umsonst aus dem nahen Wald.
Das ganze Domizil im Radmoor wurde so im Laufe der Zeit mit Mann und Maus ein Gesamtkunstwerk. Aus der Kunstgeschichte kennt man einige Vorläufer. Die Besucher hier, das waren Freunde, Verwandte, Nachbarn, Wandergruppen, Bundeswehrsoldaten, die sich auf ihrem Nachtmarsch im Moor verirrt hatten, ehemalige SDSler aus Westberlin, Behinderte, die auf ihrer Reise einen Zwischenstopp einlegten und neugierige Sonntagsausflügler. Es gab also immer genug Leute, die sich für diese abseits im Moor gelegene Kunst interessierten, damit es nicht noch mehr wurden, wimmelten die beiden sogar alle Journalisten ab.
In seinen letzten Lebensmonaten, da er auf das Krankenbett gezwungen war, überfiel Schorse dennoch gelegentlich der Gedanke an den Nachruhm, das heißt an den Kunstbetrieb, der so etwas institutionalisiert. „Sollte man sich nicht doch noch mal um eine Ausstellung irgendwo in der Stadt kümmern?“, fragte er Frauke, verwarf diesen Gedanken jedoch gleich wieder als albern. Ein anderes Mal beabsichtigte er, alle seine Werke zu signieren. Frauke seufzte und legte ihm erst mal eine kleine Mappe mit etwa 30 Bildern aufs Bett. Er begann sie durchzusehen und meinte dann: „Ach, Quatsch! Ich hab’ aber auch manchmal blöde Ideen.“ Alle diese Konventionen, das waren erste Ansätze, um aus einer fast utopischen Unmittelbarkeit doch wieder Anschluss an den Geschäftsbetrieb zu finden, der die allgemein gültigen Verkehrs- und Umgangsformen prägt.
Im Frühjahr 2005 wurde er operiert. Als er noch auf der Intensivstation lag, rief mich Frauke vom Telefon des Schwesternzimmers an und sagte, dass ich ihn sprechen könne, sie müsste dazu nur den Apparat nach nebenan tragen. Schorse hörte sich zwar noch etwas benommen an, war aber schon wieder guter Dinge: „Mensch, wenn Du wüsstest, wie viele Leute hier um mein Bett rum stehen und sich um mich kümmern. Gleich kommt auch noch meine SPD-Ortsgruppe, ich bin doch da jetzt das älteste Mitglied, die wollen mir ein Ständchen bringen und dann wird eine Rede gehalten. Aber du weißt ja, solche Reden liebe ich nun gar nicht.“ Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, trug Frauke den Telefonapparat wieder nach nebenan, unterwegs sagte sie mir leise und wie mir schien etwas erschüttert: „Das mit der SPD-Ortsgruppe, das stimmt alles gar nicht, das hat er sich ausgedacht.“ Auch in dieser politischen Hinsicht verließ er also zuletzt seine gewohnte Linie der Unmittelbarkeit – jedenfalls in Gedanken, um mit seinem ihm vielleicht zustehenden Teil des Nachruhms oder einem kleinen Zipfel der Unsterblichkeit zu liebäugeln. Aber diese Anfälle von Sentimentalität, auch mir, seinem Sohn gegenüber, waren zum Glück selten und gingen schnell vorüber – dann war er wieder „authentisch“, wie Frauke vielleicht sagen würde.
Dazu gehörte sein lockerer Umgang mit etwaigen familialen Bindungen und Zwängen: Entweder ist es anregend, mit jemandem zusammen zu sein oder nicht – und dann wird es auch nicht dadurch besser, dass man mit ihm verwandt ist. Vor allem Hochzeiten, Beerdigungen und Geburstagsfeier waren ihm ein Gräuel. Manchmal ließen sie sich allerdings nicht vermeiden, dann versuchte er, auch dabei eine andere Linie reinzubringen. So wollte meine Mutter, dass ihre Asche auf dem Grundstück verstreut wurde. Das genehmigte der Staat jedoch nicht. Mein Vater deponierte die Urne mit ihrer Asche deswegen zunächst ohne großes Tamtam im Grab ihrer Eltern. Von dort buddelte er sie aber eines Nachts wieder aus und erfüllte dann ihren letzten Wunsch.
Außerdem lief er immer in alten zerrissenen Klamotten herum und war allein deswegen schon für konventionelle festliche Anlässe kaum zu gebrauchen. Hinzu kam noch, dass Frauke und er wegen der vielen Tiere das Radmoor nicht lange verlassen konnten und wollten. Man musste sich also schon zu ihnen begeben, wenn man sich mit ihnen treffen wollte. Wenn man Glück hatte und am frühen Nachmittag dort eintraf, erwischte man sie noch am Frühstückstisch – einer alten hölzernen Kabeltrommel, die meine Mutter vor 50 Jahren für eine Mark von der Post erworben hatte.