: „Von Tag zu Tag wird’s schmutziger“
Pop? People-Journalismus? Barrikade der Straße? Ach was! Man muss es mal wieder in aller Deutlichkeit sagen: Die „Bild“-Zeitung ist ein ehrloses Klatschblatt, eine üble Sexualkloake. Bei Licht besehen ein Skandal, dass Politiker und andere Spitzen der Gesellschaft mit diesem Blatt paktieren
VON GERHARD HENSCHEL
Stellen wir uns einmal ganz dumm. Rufen wir uns den ersten Artikel des Grundgesetzes in Erinnerung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Nähere wird von Bundesgesetzen geregelt, die es Kai Diekmann, dem Herausgeber und Chefredakteur der Bild-Zeitung, erstaunlicherweise gestatten, auf der ersten Seite der größten europäischen Tageszeitung die Aussage eines Zeugen in einem Gerichtsverfahren, in dem geklärt werden sollte, ob eine Frau vergewaltigt worden sei oder nicht, in 5,5 Zentimeter hohen Balkenbuchstaben als „Neue SEX-Enthüllung“ auszukrähen und eine Schreibkraft fortfahren zu lassen: „Hat Katharina B., das angebliche Vergewaltigungsopfer von TV-Moderator Andreas Türck, schon wenige Tage danach Sex mit einem flüchtigen Bekannten gehabt? Ein neuer Zeuge sagte gestern gegen Katharina B. aus. Was eine Gutachterin über die Psyche der jungen Frau verriet – Seite 4“.
Garniert worden waren diese Worte in Bild am 26. August 2005 mit Porträtfotos des angeblichen Vergewaltigers und seines angeblichen Opfers, das weiter nichts verbrochen hatte, als nach eigener Aussage vergewaltigt worden zu sein, und dessen Liebesleben, nach menschlichem Ermessen, weder den Herrn Diekmann noch die Öffentlichkeit etwas angeht. Wie ist es nun aber möglich, dass Bild die grundgesetzlich verbürgte Unantastbarkeit der Menschenwürde eines angeblichen Vergewaltigungsopfers zerstampfen und in dessen Intimsphäre tollhäuslerisch wüten darf, aus dem niederen Beweggrund, finanziell von einem Skandalprozess um eine angebliche Vergewaltigung zu profitieren? Müsste da nicht der zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtete Staat einschreiten und dem Herrn Diekmann einmal ganz deutlich zu verstehen geben, dass es so nicht geht?
Wer so dumm fragt, der kann nicht ahnen, dass die höchsten Staatsorgane, statt das Äußerste zum Schutz ihrer heiligsten Güter zu unternehmen, mit Herrn Diekmann und seinem Redaktionsstab fröhlich zu Tische sitzen. Kai Diekmann ist ein Zögling des Altbundeskanzlers Dr. Helmut Kohl, und auch Gerhard Schröder hat eingestanden, dass er zum Regieren im Grunde nur Bild und BamS und „Glotze“ brauche. Vor Bild kuscht der gesamte Bundestag, und kein konservativer Landesvater schrickt davor zurück, in Bild das Wort zu ergreifen.
Bild, 12. September 2005, Seite 1: „Penis-Riß – Blutiges Drama um Bundesliga-Star“. Auf Seite 2 appelliert der niedersächsische Ministerpräsident Wulff an die Bundesbürger, Angela Merkel zu wählen. Gegenüber, auf Seite 3, wird unmittelbar neben einer Abbildung, die den Leichnam eines in Hamburg verhungerten Kindes präsentiert, ein „Sex-Witz“ zum Besten gegeben. Auf Seite 5 erfährt man Näheres über das „Überluder Katie Price“, genannt „Busen-Katie“. Auf Seite 14 bieten „scharfe Teeny-Gören“ ihre Dienste an („Sofort Vollgas mit Orgasmusgarantie“), und auf der letzten Seite plaudert ein Bonvivant aus dem Nähkästchen seiner Lebensregeln: „Vergessen Sie das Gestern! Schmeißen Sie den Rucksack des Bereuens in den Müll.“
Ja, schämt er sich denn nicht, der Christian Wulff, der doch einer dem Christentum buchstäblich und programmatisch verpflichteten Partei angehört, in Europas größter und übelster Sexualklatschkloake das Wort zu ergreifen? Zwischen der Sensationsnachricht von einem „Penis-Riß“ und dem gierig ausgekosteten Hungertod eines Mädchens? Graust es diesen sittlich sonst doch sicherlich gefestigten Ministerpräsidenten nicht davor, das Wahlvolk aus einer Totengruft anzusprechen, die vom Krakeelen über die Seitensprünge von Schlagersängern widerhallt und im Kleinanzeigenteil „heißen Oma-Sex“ per Telefongespräch mit Greisinnen offeriert? „Gerda (83) ist immer noch triebig!“, heißt es da, und das sei ihr von Herzen gegönnt; aber was treibt einen hohen Repräsentanten der Staatsgewalt in die Gesellschaft dieser immer noch triebigen Gerda (83) und jener plaudersüchtigen Bettwanze, die den Unterleib des „Göttergatten“ einer „Busen-Katie“ befallen hat und dort zu einem ordinären Sittenstrolch gediehen ist, der Bild einen Exklusivbericht aus den Schamteilen eines Bräutigams verscherbelt?
Der Naivling, dem solche Fragen einfielen, müsste darüber belehrt werden, dass in Deutschland eben auch christdemokratische Ministerpräsidenten an der ungeheuren Macht schmarotzen wollen, die Bild im geistigen Lumpenproletariat mit Reportagen aus den Unterhosen prominenter Zeitgenossen erwirtschaftet hat. Und dass es selbst Reaktionären wie dem – versteht sich – BamS-Kolumnisten Peter Hahne, die unsere „Spaßgesellschaft“ geistig und moralisch erneuern und aufrüsten möchten, herzlich egal ist, wie pietätlos Bild mit dem Leichnam eines verhungerten Kindes umspringt und mit welcher Gehässigkeit Bild das Ansehen einer jungen Schauspielerin in der Stunde ihres ersten großen internationalen Triumphs durch das Auspetzen ihrer Vergangenheit als Aktrice in einer Handvoll pornografischer Filme zu zerstören versucht hat. Nachdem eine Jury die Schauspielerin für ihre eindringliche Darstellungskunst gelobt hatte, veröffentlichte Bild ein Foto, das die Schauspielerin beim Geschlechtsverkehr a tergo zeigte, und versah es mit der höhnischen Unterzeile: „Eindringliche Darstellung“.
Das war der Herrenwitz, den Kai Diekmann auf Kosten einer Künstlerin riss, zum Gaudium jener 3,76 Millionen Witzbolde, die werktäglich 50 Cent für die von Bild gewährte gute Aussicht auf Rufschädigungen und entblößte Hinterteile bezahlen. Nach Aussage der Schauspielerin versuchte Bild danach ein Interview von ihr zu erpressen, mit der Drohung, sonst ihre türkischen Eltern zu belästigen. Und so geschah’s: Die Schauspielerin weigerte sich, mit ihren Häschern zu sprechen, die Häscher holten den Vater ans Telefon, und der schockierte Immigrant verstieß seine Tochter: ein kleines Damenopfer für die Pressefreiheit. Und Kai Diekmann sah, dass es gut für die Auflage war.
Einträglicher und vergnüglicher als das Beschmieren einer einzelnen Toilettenwand mit Zoten ist die millionenfache Reproduktion der beschmierten Toilettenwand, und am lustigsten muss es sein, die publizierten Zoten mit Moralschnörkeln zu verzieren. Als sich der Freispruch des Fernsehmoderators Türck abzeichnete, heuchelte Bild Entrüstung über „eine Justiz, die diesen Prozeß zuließ und vier Wochen lang ein schmutziges Gerichtsspektakel inszenierte“, während Bild die Inszenierung zuvor als noch viel schmutzigeres Zeitungsspektakel übernommen hatte, um ein sehr großes Geschäft damit zu verrichten. Über Katharina B. schrieb Bild, sie habe „wenigstens verdient, daß man nicht noch mal in den Wunden ihrer Seele bohrt“. Doch schon tags darauf konnte Bild frohlockend von einem anderen Tatort berichten: „Der Sexprozeß gegen TV-Star Willi Thomczyk (51, ,Die Camper‘) – von Tag zu Tag wird’s schmutziger …“
Am schmutzigsten geworden war es, bis auf Weiteres, im April 2005, als der Papst, man staune, eine Bild-Delegation im Vatikan empfangen und ihr Anführer, der täglich zahllose „Bumskontakte“ vermittelt, dem Heiligen Vater ein Exemplar der „Volksbibel“ von Bild überreicht und scheinheilig erklärt hatte: „Mit über zwölf Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen.“ Ein denkwürdiges Ereignis: Der Stellvertreter Gottes auf Erden hat dem Herausgeber und Chefredakteur der Bild-Zeitung eine Audienz gewährt – einer Kreatur, in deren täglicher Telefonsex-Kontaktbörse unersättliche Lustluder, dicke Girls, total versaute Strohwitwen und naturgeile Nymphen tabulosen Männern extrem perversen Spontansex im Auto versprechen, nebst einer strengen Erziehung, die aber wohl nur in den allerperversesten Ausnahmefällen die stimulierende Belehrung der Kunden über die im Katechismus der katholischen Kirche festgeschriebenen Anstandsregeln einschließen dürfte.
Nach der Eroberung Roms in einem Feldzug, dessen durchtriebene Planung und souveräne Ausführung selbst die grimmigsten Gegner der Pressemafia als echte, vormals unerreichte Spitzenleistungen des Medienkriegshauptquartiers der Doppelmoralisten würdigen müssen, hat Kai Diekmann die christliche Glaubensbotschaft, die ihm ein ernstes Anliegen ist, dahingehend verbreitet, dass er zwölf Millionen Bewohnern des christlichen Abendlandes beide Backen eines mutmaßlichen Kindermörders hinhielt und den Mann als „fette Bestie“ titulierte, bis sich mutmaßlich noch in der Brust des letzten gottvollen Christen, der sonst keiner Fliege etwas zu Leide tun mochte, die Mordlust regte. Diese wiederum hat Kai Diekmann in seiner interessanten Zeitung mit einem Foto gehenkter „Kinderschänder“ befriedigt, denen im Iran der Prozess gemacht worden war. Es könnte sich zwar auch so verhalten, dass über die Gehenkten allein deshalb das Todesurteil verhängt worden war, weil sie im Iran, wo natürliche Regungen mit der Todesstrafe bewehrt sind, als Homosexuelle auf die Welt gekommen waren. Man weiß es nicht.
Man kann sich vielleicht, auch mit einer geringen Begabung zur Fantasie, in groben Zügen ausmalen, wie iranische Sittenrichter mit Schwulen verfahren. Aber nur ein Genie der Niedertracht und der Gewissenlosigkeit konnte auf den Gedanken verfallen, den Schnappschuss am Galgen baumelnder Todesopfer einer bestialischen Sexualjustiz herzunehmen und damit in einem von zwölf Millionen blutrünstigen Lesern umlagerten unstillen Örtchen sensationelle Wirkungen zu erzielen. Und danach zur Front der „brutalen Scheidungsschlacht“ des nächstbesten Schlagerstars aufzubrechen, der bereit war, sich als Interviewpartner zu prostituieren, damit Kai Diekmann ihn wieder einmal überm Knick auf der ersten Seite mit nacktem Oberkörper und einer Schlagzeile unterbrachte: „UDO JÜRGENS – Frau weg!“ Denn so wäscht hier eine Hand die andere mit „Preßjauche“ (Karl Kraus).
Wo ist es hin, das stolze Bildungsbürgertum, das sich die Hand lieber abgehackt hätte, als sie einer Journaille zu reichen, die aus einem „6-Meter-Sturz beim Pinkeln“ eine Schlagzeile fabriziert und über den Tod einer lebendig verbrannten spanischen Obdachlosen witzelt, hier sei eine „Oma“ versehentlich „gegrillt“ worden? Und einer Anzeigenredaktion, die die christliche Glaubensbotschaft verbreitet, dass „perverse Hobbyschlampen“ eine „Abspritzgarantie“ zu bieten hätten? Wie ist es möglich, dass ein christlicher Ministerpräsident auf die verwegene Idee verfällt, sich in einem solchen Schweinestall den Wählern vorzustellen? Nichts gegen Orgien, solange kein Bild-Reporter sie durch eine Reportage darüber entweiht. Aber allein zur Strafe für die mittlerweile zigmillionenfache Drucklegung der wahrlich säuischen, dem Eros ins Antlitz gespuckten Vokabel „Abspritzgarantie“ sollte ein Kulturvolk den Sittenverderber Kai Diekmann und alle seine Bauchredner ächten.
Wer sich dagegen sträubt, in einem seriösen Forum über die Minderwertigkeit eines Skandalblatts aufgeklärt zu werden, die ja von zivilisierten Menschen nie bestritten worden ist, der sollte es doch auch als Zumutung empfinden, von Politikern regiert zu werden, die vor der Majestät dieser Unmoraltrompete niederknien, indem sie ihr Interviews geben und Kolumnen in ihr veröffentlichen, zwischen den Wäscheleinen, an denen Kai Diekmann die Slips und die Bettlaken lüftet, zur Belustigung eines Pöbels, der mit Bettgeschichten aus dem höheren und niederen Adel der Fernsehprominenten unterhalten zu werden wünscht. Ginge es mit rechten Dingen zu, könnte Kai Diekmann seine unbestreitbare Eignung zum Sexualdenunzianten allenfalls als Klatschmaul in Hamburger Hafenkneipen unter Beweis stellen, und er wäre weder Chefredakteur noch Herausgeber einer sittenverwildernden Millionenzeitung, die sich damit brüstet, konservativ zu sein, sondern nur ein armseliger Knilch, der sich etwas darauf einbilden dürfte, über die Vorgänge unter Udo Jürgens’ Bettdecke Bescheid zu wissen.
In seiner gegenwärtigen Inkarnation ist Kai Diekmann jedoch einerseits der Anzeigenzuhälter für eine „Ordinäre Olle mit dicken Dingern“ und eine „Versaute Türkin, zu allem bereit“, aber andererseits auch einer, dessen Korrespondenten Zugang zum Bundeskanzleramt haben, nach Washington und Moskau mitfliegen und beim Bundespresseball eine flotte Sohle aufs Parkett legen.
Wenn Antje Vollmers Zivilgesellschaft ihre höchsten Feiertage begeht, bleibt ein Herausgeber, der die Schlagzeile „Beziehungskrach wegen Bettwäsche“ herausgegeben und aus professioneller Neugier mit Vorliebe als ungebetener Gast in anderer Leute Schlafzimmer sein grauses Haupt erhoben, die Laken zerwühlt und jeden ruchbar gewordenen Seitensprung eines Bezirksligaprominenten weitergetratscht hat, leider nicht draußen, obwohl er doch verrufen sein müsste, als Sexualspion, der von Menschen, die auf Sitte und Anstand bedacht sind, nicht einmal mit der Kneifzange angefasst würde, und er sollte sich am Feierabend, in der stillen Hoffnung, nicht erkannt zu werden, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und eingezogenem Schweif aus dem Schlüsselloch einer Wellness-Kosmetikerin in einen noch dunkleren Unterschlupf schleichen und sich freuen, wenn er unterwegs nicht geohrfeigt und auf Schritt und Tritt von erniedrigten und beleidigten Bürgern zum Duell herausgefordert wird.
Aber nein, so ist es nicht. Kai Diekmann, ein Subjekt, das aus den Schamhaaren von Göttergatten Korrespondentenberichte entgegennimmt, ist ein geschätzter und gefragter Mann, der sich und aller Welt seine Adresse im Rinnstein („Schumi exklusiv – Ich bin immer noch geil auf Siege!“) als „Boulevard“ schöngeredet hat. Patricia Riekel, die Chefin des unsäglichen Käseblatts Bunte, hat ihrem Kompagnon Diekmann beigepflichtet: Die Berichterstattung über die Seitensprünge von Prinzen, Prinzessinnen und Schlagerwürstchen sei nun einmal „People-Journalismus“. Wieder andere sagen „Pop“ dazu und erbauen sich an ihrer zynischen Unterscheidungskunst. Es ist aber weder Boulevard noch Pop und schon gar keine ehrwürdige „Barrikade der Straße“ (Kai Diekmann), sondern die Regierungserklärung einer Klosettmoral, wenn Bild die vor Gericht vergossenen Tränen eines angeblichen Vergewaltigungsopfers oder der Gattin eines Botschafters, die eine Fehlgeburt erlitten hat, auf Seite 1 ediert und sich daran hochzieht.
Bild ist nicht Pop, sondern Gosse. Bild ist das Sexualorgan, das Millionen impotente kleine Männer von der Straße als ihr eigenes empfinden, und sei es nur zur Befriedigung des Durstes nach Rache an den Reichen und Schönen, die sich durch Reichtum und Schönheit an den sittlichen Idealen eines immer noch kaufkräftigen Mobs versündigt haben. Wie bitte? Ein TV-Moderator hat sich sexuell befriedigen lassen? Auf einer Mainbrücke? In Bild muss er schlimmer dafür bluten als vor Gericht.
Die letzte Seite ist in Bild für Neuigkeiten aus der High Society reserviert. Unter der Überschrift „Lustgreis auf Luder-Pirsch“ berichtete Bild dort am 5. September 2005: „Das komplette Igitti-bäh-Kontrastprogramm: Der Auftritt von Tinto Brass (72, ‚Caligula‘), Altmeister des italienischen Softpornos, bei den altehrwürdigen Filmfestspielen in Venedig. Lustgreisenhaft lupfte er das Kleid der russischen Schauspielerin Anna Jimskaia (25). Fummelte ihr grinsend am drallen Allerwertesten. Beäugte sie intensivst von vorne (ohne verhüllendes Stöffchen). Peinlich, peinlich!“ Bebildert worden war der Kurzbericht mit einem Schnappschuss des Vorgangs und ergänzt durch die Bildunterschrift: „Hoch das Röckchen! Tinto Brass begrabbelt Darstellerin Anna Jimskaia von hinten.“
In solchen Formulierungen offenbart ein geistiger und moralischer Kretinismus seine Zwergengestalt, die jetzt publizistisch einen Kontinent beherrscht. Das ist der elende Jargon, in dem Bild auch gerne Frauenbrüste als „Hupen“ oder „Schaumglocken“ anspricht. In dieser Disziplin ist Bild, wie Kai Diekmann einräumt, „journalistischer Schrittmacher und Marktführer“, und hier hat Bild zweifellos „die Meinungs- und Nachrichtenführerschaft“ inne, nämlich in der Dosenbierpfütze, die uns die Bundeswehrsoldateska am Wochenende im Zugabteil zu hinterlassen pflegt. In dieser zum Himmel stinkenden Pfütze ist Kai Diekmann Kapitän, Mathias Döpfner Großadmiral und Friede Springer Bademeisterin ehrenhalber. Hier dürfen sie einmal werktäglich Menschen kielholen, Genitalien mit Spuckebatzen aus Druckerschwärze bespeien und die Schlagzeilenpeitsche über Unterhosen schwingen. Im Miasma dieser Waschküchenlauge, die ihr natürliches Biotop ist, dürfen Kai Diekmann, seine Untergebenen und seine Vorgesetzten sich an dem ozeanischen Gefühl der Macht über den Leumund jedes Menschen ergötzen, der sich einbildet, ein Privatleben führen zu dürfen. Den notgeilen Heimschläfern, die seine Zeitung lesen, hat Kai Diekmann selbst die vor Gericht vergossenen Tränen eines angeblichen Vergewaltigungsopfers auf der Titelseite dekantiert, eingeschenkt und serviert, mit den allerbesten Empfehlungen, die das Haus Springer in Gestalt eines Fotos und einer Riesenschlagzeile auf Seite 1 in Bild zu vergeben gehabt hat: „Katharina (29) weinte gestern vor Gericht – So hat Türck mich vergewaltigt“.
„Wer sein Privatleben privat lebt, bleibt privat“, behauptete Kai Diekmann in einem Interview mit der FAZ, nachdem er das angebliche Vergewaltigungsopfer Katharina B. gossentechnisch abgefrühstückt und ausgesaugt und aus der „Sex-Akte Türck“ den letzten auflagesteigernden Samentropfen herausgelutscht hatte. Und da soll es noch Menschen geben, die Kai Diekmann die Hand reichen und seiner Zeitung ein Interview gewähren?
Aber hallo. Zwischen den XXL-Brüsten einer rasierten Transe und den Tränen eines angeblichen Vergewaltigungsopfers äußern sich Schauspielerinnen in Bild bereitwillig darüber, ob bei ihrer Scheidung der Altersunterschied eine Rolle gespielt habe, ob es einen anderen Mann in ihrem Leben gebe und ob ihre Brüste „echt“ seien. Hier legt ganz Deutschland die Beichte ab: Mario Adorf über seine Seitensprünge, der Fernsehfritze Carlo von Tiedemann über seine Schönheitsoperation („Diese Alterstitten quälten mein Ego“), der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker über die Notwendigkeit einer stabilen Regierungskoalition, Horst Tappert über die Wassereinlagerungen in seinen Füßen und Jörg Immendorff über die Einfälle, die er in der Badewanne hat.
Hier stehen sie, statt indigniert den Hörer aufzulegen oder den Blutsaugern die Tür vor der Nase zuzupfeffern, Rede und Antwort: Strafverteidiger, Kardinäle, Minister, Bankiers, Künstler, Unternehmer, Kanzler und Bischöfe. Hier inserieren Supermarktketten, Autohersteller, Kaffeehändler, Arzneimittelproduzenten, Unternehmerverbände, Gewerkschaften und Bundestagsparteien.
Dass zwölf Millionen Schwachköpfe wissen möchten, wer nun wem „am drallen Allerwertesten“ gefummelt habe, und dass es ein ehrloses Klatschblatt gibt, das solchen Wissensdurst stillt und die Ehekräche primitiver Schlagerfuzzis bekochlöffelt – damit könnte man leben. Aber dass eine Kulturnation bis hinauf in die höchsten Spitzen der Regierung, der Wirtschaft und der Erbverwalter Goethes mit diesem Zentralorgan der Unterhosenspionage paktiert, ist ein Skandal. In Bild gurgelt der Gully obszön vor sich hin. Wer in dieses Abflussrohr hinabsteigt, der hat seinen Geist aufgegeben. Wer Bild als Kolumnist oder als Interviewpartner dient, der ist ethisch gerichtet und hat seinen intellektuellen und moralischen Bankrott erklärt. Und wer, wie Gerhard Schröder es getan hat, einen ausländischen Staatsgast zum gemeinsamen Bild-Interview willkommen heißt, der sollte sich die Frage vorlegen, ob es nicht anständiger gewesen wäre, den Gast in einem gut geführten Bordell zu begrüßen als in Kai Diekmanns dreckiger Sexualnachrichtenkaschemme.
Nachdruck aus „Merkur“, Nr. 680,Dezember 2005