: „News im Kontext“
RTL-II-Nachrichtenchef Jürgen Ohls über sein Reportageformat „100 Tage“ (So., 23.15 Uhr) und Informationsvermittlung jenseits der Schlagzeilen
Interview Peer Schader
taz: Herr Ohls, die „RTL II News“ gelten in der Branche als typisches Privatfernsehen-Format: viel Boulevard, wenig Informationen. Ist es wirklich notwendig, in einer solchen Sendung Filmtipps zu zeigen und „Explosiv“-Beiträge zu recyceln?
Jürgen Ohls: Wir haben einfach kein so großes Budget wie viele andere Sender und greifen deshalb auf RTL-Material zurück. Mit Kinotipps habe ich kein Problem – für mich gibt es keinen Unterschied, ob man Bilder einer Ausstellungseröffnung zeigt oder aus einem neuen Film. Das interessiert junge Leute nun mal.
Am Sonntag läuft die neue Folge Ihres Reportageformats „100 Tage“, in dem erzählt wird, was aus einer Meldung geworden ist, die 100 Tage zuvor die Nachrichten beherrschte. Gab es ein Vorbild dafür?
Nein. Das war viel einfacher: Ich hatte vor anderthalb Jahren die Idee zu „100 Tage“, bin zum damaligen Senderchef Josef Andorfer gegangen und hab gesagt: Das möchte ich machen. Und er hat gesagt: Okay, dann los. Meine Vermutung war: Ereignisse werden in den Nachrichten oft zehn bis 15 Tage begleitet, dann ist die Luft raus. Die letzten Male haben wir uns mit dem Untergang der „Rockness“ nahe Norwegen und mit der Flut in Boscastle befasst.
Diesmal geht es um New Orleans. Was ist das Besondere an dem Format? Viele andere Sender berichten darüber auch.
Unser Autor Thomas Vöx war vor Ort, hat sich mit Einwohnern und Verantwortlichen unterhalten und dieses Material mit Archivbildern kombiniert. Wir arbeiten diesmal mit sehr langen O-Tönen, bis zu 50 Sekunden. Das ist möglich, weil wir Splitscreen nutzen – in der einen Hälfte läuft der O-Ton, in der anderen sind Bilder zu sehen, die sich darauf beziehen. Deshalb wird es auch nicht langweilig. Ich fand es unglaublich zu sehen, wie viele Menschen wieder in der Stadt leben, aber die Ereignisse noch nicht verarbeitet haben. Dabei stellt sich der Effekt ein: Aha, die Geschichte ist längst nicht zu Ende, nur weil sie aus den Schlagzeilen ist.
Eigentlich müsste es das doch im Fernsehen viel öfter geben: Nachrichten in einen Kontext zu stellen, oder?
Nachrichtensendungen können nur schwer Kontexte abbilden. Auch der professionellste Macher wird nicht von sich behaupten, komplexe Zusammenhänge in anderthalb Minuten erklären zu können. Der Zuschauer sieht immer nur einen Ausschnitt – und bekommt bestenfalls drei bis vier Fakten geliefert. Bei einem Format wie „100 Tage“ kann man das anders machen.
Ist es nicht merkwürdig, dass es so was bei den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht schon längst gibt?
Ja, schon. Eigentlich gehört es ja zu deren Kernaufgabe, Zusammenhänge herzustellen. Es gibt dort natürlich auch tolle Reportagen, die mit viel Einsatz und großer Sorgfalt gemacht werden. Aber ich frage mich schon: Muss das nicht viel öfter passieren – und zwar nicht nur als Mitarbeiter von RTL II, sondern eben auch als GEZ-Zahler.
Passt „100 Tage“ überhaupt zu RTL II, das doch in erster Linie auf Entertainment setzt?
Der Sender verändert sich gerade. Es ist sehr wohl möglich, bei RTL II ein anspruchsvolles Format zu etablieren. Unser „Nachrichtenjournal“ am Sonntagabend nach null Uhr, im so genannten Graveyard-Slot, dem keiner auch nur den Hauch einer Chance gegeben hätte, läuft ganz gut. Viele denken bei RTL II immer noch an Trash. Deshalb müssen wir Neues ausprobieren, auch wenn das mit klassischen RTL-II-Sehgewohnheiten bricht.
Warum wird „100 Tage“ nicht zur Hauptsendezeit gezeigt?
Ich glaube, die Erzählweise ist für die Primetime nicht temporeich genug. Man muss die Zuschauer bei ihren Erwartungen abholen – und die sind sonntagabends nun mal andere als unter der Woche um 20 Uhr 15. Wir haben gute Erfahrungen mit dem Sendeplatz gemacht: Die letzte Folge haben eine Million Zuschauer gesehen.
Läuft „100 Tage“ bald öfter?
Das Format muss sich der Realität anpassen, nicht andersherum. Wir überlegen derzeit, etwas zu den Unruhen in Paris zu machen, aber das wird schwer sein, weil man jemanden braucht, der sich in der dortigen Szene auskennt, um das zu recherchieren. Und letzten Endes ist das immer auch eine Budgetfrage.