: Huckleberry Finn goes gothic
BLUTVERLUST In „Dunkle Gewässer“ erzählt der Texaner Joe R. Lansdale von einer Floßfahrt des Grauens
Wie durchgeknallt gothic das alles eigentlich ist, sickert beim Lesen erst so allmählich ins Bewusstsein. Wer – aber wer tut das schon; und hier und da hat man halt Bildungslücken – vor der Lektüre ganz unbedarft nach dem Vielschreiber Joe R. Lansdale gegoogelt hätte, wäre in der Wikipedia auf einen Sekundärartikel des Autors Andreas Gruber hingewiesen worden, der den Titel trägt „Zwischen ironischer Gesellschaftskritik und Splatterpunk“. So wäre man hinreichend gewarnt gewesen, hätte sich aber auch um ein gewisses Überraschungsmoment gebracht.
Im Nachhinein ließe sich noch fragen, ob die Gesellschaftskritik hier wohl wirklich der Rede wert ist. Aber genügend Splatterpunk ist auf jeden Fall drin in diesem Roman, der anfängt wie ein Thriller, Fahrt aufnimmt wie ein Abenteuerroman und über die gesamte Strecke reichlich Körpersäfte spritzen und Gliedmaßen fallen sieht.
Ein Fluss steht im Zentrum der blutigen Geschehnisse, der Sabine River irgendwo im tiefsten Texas. In diesem Fluss findet sich die Leiche von May Lynn, einer ehemals siebzehnjährigen Schönheit. Eine Nähmaschine ist an ihr festgebunden, was auf eine unnatürliche Todesursache schließen lässt. Da weder der örtliche Vertreter der Staatsmacht noch der Vater der Verstorbenen Interesse an einer Aufklärung des Falles haben, wird die Leiche kurzerhand verscharrt, sehr zum Entsetzen der Freunde der Getöteten.
Sue Ellen, die jugendliche Ich-Erzählerin, ihr schwuler Freund Toby und ihre schwarze Freundin Jinx (das gesellschaftskritische Potenzial liegt eindeutig in der Auswahl der Helden) beschließen, die Tote wieder auszugraben, einzuäschern und ihre Asche nach Hollywood zu bringen, um ihr im Tod einen Wunsch zu erfüllen, den sie zu Lebzeiten hatte. Eine Schatzkarte, die May Lynn gezeichnet hatte, bringt die Jugendlichen in den Besitz von über tausend Dollar, die May Lynns krimineller Bruder einst bei einem Banküberfall erbeutet hatte. Mit dem Geld und der Asche in zwei Kübeln machen die drei sich – zusammen mit Sue Ellens vorher daueralkoholisierter Mutter, die die Chance nutzt, ihrem dauerbrutalen Mann zu entfliehen, der zudem die Tochter zu missbrauchen pflegte – mit einem geklauten Floß auf den Weg den Fluss hinunter, grob in Richtung Hollywood.
Märchenhafter Ton
Oft ist es dabei so, als würde man das alles schon kennen. Das erweist sich letztlich jedes Mal als Irrtum, denn wenn einer so viele literarische Blaupausen übereinanderlegt, wie Lansdale es getan hat, ist das Ergebnis schließlich wieder etwas ganz Neues. Aber an Huckleberry Finn muss man doch immer wieder denken, weil sich auch bei Lansdale eine enge Schicksalsgemeinschaft zu einer Floßfahrt in die Freiheit zusammenfindet, die überschattet wird von einem alles dominierenden Bedrohungsszenario, das sich hier jedoch ins ultimativ Groteske gesteigert findet.
Was bei Huck der vergleichsweise harmlose Indianer Joe, ist für Sue Ellen und ihre Freunde ein geheimnisumwittertes menschliches Monster namens „Skunk“, das in den Wäldern lebt und seine Opfer nicht nur tötet, sondern ihnen vor allem mit Inbrunst die Hände abhackt. Dann wiederum erinnern Motivik und Atmosphäre in diesem Roman des Texaners Lansdale oft an die Country-noir-Epen eines anderen Südstaatlers, des in Missouri beheimateten Daniel Woodrell.
Doch bei Lansdale sprechen die reichlich gestreuten Horrorelemente die Sprache noch einer anderen literarischen Heimat, bringen einen geradezu märchenhaften Ton in die Erzählungen aus dem Herz der Südstaaten-Finsternis. All diese aufgespießten Priester, verfaulenden Gliedmaßen, blutigen Armstümpfe und nicht zuletzt der ultimative Gegensatz von Gut und Böse in diesem temporeichen Abenteuerroman sind die Insignien einer lustvollen literarischen Romantik. Es ist, was es ist: ein großer Spaß.
KATHARINA GRANZIN
■ Joe R. Lansdale: „Dunkle Gewässer“. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 320 Seiten, 19,95 Euro