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Archiv-Artikel

ADVERT RETARD®

Gegen die Werbeschlacht der Pharmaindustrie

Es geht darum, zu lernen, die Strategien der Pharmaindustrie erst mal zu erkennen und zu durchschauen

VON GABRIELE GOETTLE

Dr. med. Peter Tinnemann, Leiter des Bereichs Internationale Gesundheitswissenschaften am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charié, Mitinitiator des pharmakritischen Seminars „Advert Retard“ für Medizinstudenten u. des Vereins CMI für eine zertifizierte medizinische Unabhängigkeit. Peter Tinnemann ist 1967 in Herne/Ruhrgebiet geboren, besuchte in Herne die Schule, machte 1987 Abitur. Ab 1989 studierte er Medizin u. schloss das Studium 1999 in Hamburg mit der Promotion ab. Anschließend Auslandsaufenthalte (innerhalb von 12 Jahren in 15 verschiedenen Ländern, u. a. 1996–2003 in Afrika für Ärzte ohne Grenzen). Von 2003–2006 Aufenthalt in England und Arbeit beim NHS (National Health Service) u. ab 2005 nebenher Studium in Cambridge, wo er 2007 seinen Master of Public Health machte. Ab 2007 Arbeit an der Charité und daneben, seit 2012, Arbeit im sozialpsychiatrischen Dienst beim Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg (im Rahmen einer Facharztausbildung). Peter Tinnemann ist geschieden u. hat 2 Töchter ( von 2 Frauen), sein Vater war Elektrotechniker, die Mutter gelernte Schneiderin und Ikebane-Lehrerin.

Mehr als das Doppelte von dem, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt, steckt die Pharmaindustrie in ihre Werbung. Tag für Tag sprechen 15.000 Pharmavertreter mit ihren Musterkoffern und Werbepräsenten bei Ärzten und in Krankenhäusern vor. Pharmakonzerne finanzieren oder sponsern so gut wie alle relevanten ärztliche Weiterbildungskongresse. An der Berliner Charité gibt es seit mehr als drei Jahren ein Seminar mit dem anzüglichen Namen „Advert Retard®“, was eine englisch-lateinische Wortschöpfung ist mit der Bedeutung, einer gleichmäßigen und über längere Zeit ihre Wirkung entfaltenden Werbung. Und um die geht es.

Das Seminar hat sich die Aufgabe gestellt, den Medizinstudenten zu vermitteln, dass es sich hier nicht um eine zu vernachlässigende Erscheinung des Arzneimittelmarktes handelt, sondern um eine gezielte und gut funktionierende Beeinflussung des ärztlichen Verhaltens, um korrumpierende Anreize, zu Gunsten der Verkaufsförderung von Produkten mit dem jeweiligen Markennamen. Die vielfältigen Marketingstrategien und Werbemethoden der Pharmaindustrie werden den Studenten vor Augen geführt und der sogenannte Interessenkonflikt der Ärzte analysiert.

Das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie befindet sich in einem renovierten Altbau, keine 100 Meter entfernt vom Bettenturm der Charité. Herr Dr. Tinnemann bittet uns in einen kleinen Seminarraum und stellt uns seine Praktikantin vor, die zuhören möchte. Er bietet uns Wasser an und beginnt auf meine Frage, wie es zu seinem Seminar kam, mit dem Erzählen. „Das Thema Pharmaindustrie beschäftigt mich schon lange, eigentlich seit der Zeit – den sieben Jahren - in denen ich für ‚Ärzte ohne Grenzen‘ in Afrika tätig gewesen bin. Die Organisation hat sich sehr dafür eingesetzt, dass HIV/Aids infizierte Menschen in Süd-Sahara mit anti-retroviralen Medikamenten behandelt werden können. Ich habe unterernährte Kinder gesehen, Kinder, die vom schmutzigen Wasser Durchfallerkrankungen hatten, und vor allem Kinder und Erwachsene, die mit HIV/Aids infiziert waren. Ich habe noch so eine Fotoreihe von einem kleinen Mädchen, sie war sieben Jahre alt, und sie ist ganz elend zugrunde gegangen, vor unseren Augen. Wir hatten nichts, um ihr zu helfen. Wir hatten grade mal Paracetamol für ihre Schmerzen. Damals bin ich als Mediziner unentwegt darüber gestolpert, dass es sehr viele Menschen gibt, kranke Menschen, die einfach keinen Zugang haben zu Medikamenten, weil die Medikamente exorbitant teuer sind. Sie können sich die nicht kaufen.

Da fragt man sich dann, warum sind die eigentlich so teuer. Kann man was daran ändern? Geht es auch anders? Dann habe ich zu einer späteren Zeit im englischen Gesundheitsdienst mehrere Jahre gearbeitet. Das Gesundheitssystem ist anders organisiert, als wir es kennen. Und es ist gut, auch wenn gern anderes behauptet wird. Es ist staatlich, kostenlos für den Bürger und wird finanziert über die Steuern, was gerechter ist. Also das war damals, unter der Labour-Regierung, da hatten sie schon angefangen mit Privatisierung. Wie es heute genau aussieht, weiß ich nur von Kollegen. Aber ich muss ehrlich sagen, die Ärzte sind wesentlich besser ausgebildet.

Blick nach England

Wir, als Gesundheitsamt, waren u. a. auch verantwortlich dafür, dass die Patienten zuverlässig alle notwendigen Medikamente bekommen. Es gibt kein Krankenkassensystem. Die Regierung verhandelt direkt mit der Pharmaindustrie und entscheidet in der Konsequenz, was Medikamente eigentlich kosten dürfen. Ich habe sozusagen verstanden, wie es funktioniert. Da gibt es Preisfestlegungen, die anders getroffen werden als bei uns, wo sie dem freien Markt überlassen sind. Die Verhandlungsmacht des Nationalen Gesundheitssystems ist natürlich auch eine ganz andere, als wenn hier in Deutschland jede Krankenkasse mitverhandelt.

Und als ich dann an die Charité kam und hier an diesem Institut begonnen habe, Medizinstudenten zu unterrichten in Epidemiologie und Sozialmedizin, da fiel mir auf, dass man sich in Deutschland jahrzehntelang dagegen gewehrt hat, das Sozialmedizin zu nennen, wie das in anderen Ländern üblich war. Die Sozialhygiene bzw. Sozialmedizin entstand ja in Deutschland. Alfred Grotjahn* (1869–1931) war der Begründer der Sozialhygiene, er hatte 1920 hier an der Charité den ersten sozial-hygienischen Lehrstuhl. Von ihm ist auch die Forderung: „Übernahme des gesamten Heil- und Gesundheitswesens in den Gemeinbetrieb unter Beseitigung jeglicher privatkapitalistischer Wirtschaftsform“. Die Nazis haben die Sozialhygiene dann missbraucht, sie haben sie über die Eugenik zur Rassenhygiene gemacht. Und nach dem 2. Weltkrieg hat sich keiner mehr getraut zu sagen, ich kümmere mich um die Gesundheit der Bevölkerung.

In der DDR war das anders. Im Westen wurde gesagt, das macht der Staat nicht mehr, das wird sozusagen ins marktwirtschaftlich kapitalistische System eingetütet. Man hatte sich verabschiedet von Infektionskrankheiten, es ging nur noch um Krebs und Diabetes. Erst in den 80er Jahren hat man gemerkt, wir haben gar keine Experten mehr, und da hat man angefangen, junge Leute ins Ausland zu schicken, z. B. Karl Lauterbach, auf ein Regierungsstipendium zum Studium von ‚Health Policy and Management‘ und der Epidemiologie an der Harvard School of Public Health, Boston. Diese Leute sollten die modernen Ideen von Public Health hier wieder reetablieren. Das ganze war sehr befeuert durch HIV/Aids, in dem man wieder so was wie eine große Volksseuche befürchtet hat. Mit den Behandlungsmöglichkeiten hat sich dann aber das Interesse wieder verloren.

Es lag es für mich nahe, sich an diesem Institut mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesundheit von Menschen, da guckt man natürlich zuerst mal in die armen Länder. Aber ich stellte fest, auch in Deutschland gibt es viele Arme. Und da fragte ich mich, welche Verantwortung haben eigentlich Ärzte für arme Menschen? Die sollten sich positionieren. Was für eine Rolle spielt die Pharmaindustrie? Genau in dem Moment kamen Kollegen von der Organisation Health Action International – einer Dachorganisation vieler Organisationen, die sich kritisch auch mit der Pharmaindustrie auseinandersetzen – und die hatten ein Handbuch zusammengestellt, gemeinsam mit der WHO, zum Thema: verstehen und reagieren auf Werbung und Beeinflussungen der Pharmazeutischen Industrie. Sie kamen auf mich, weil ich mit Health-Action-International-Leuten mal zu tun hatte.

Da geht es um ein ganz zentrales Thema, nämlich darum, zu lernen, die Strategien erst mal zu erkennen und zu durchschauen, damit man ihnen dann auch widerstehen kann. Diese Herausforderung ist ja leider nicht Teil des medizinischen Curriculums. Mit dem Thema endlich mal an den Universitäten anzufangen, darüber Studierende der Medizin zu informieren, das war der Gedanke.

Ich hab dann mal geschaut, wer befasst sich in Deutschland eigentlich generell mit dem Thema, habe einige eingeladen und gesagt, ich würde gern ein Seminar anbieten, würdet ihr da mitmachen, eure Expertise einbringen, wie könnten wir das umsetzen auf deutsche Verhältnisse? So haben wir angefangen vor dreieinhalb Jahren. Inzwischen ist es ein Wahlpflichtkurs. Das Format des Kurses nennt sich: Grundlagen des ärztlichen Denkens und Handelns. Es zielt speziell darauf ab, dass die jungen Medizinerinnen und Mediziner sich Gedanken über ihr zukünftiges Handeln machen. Es war erstaunlich, die jungen Studierenden haben sehr differenziert darauf reagiert. Anfangs haben wir Rollenspiele gemacht, die Studierenden sollten sich mal vorstellen, was würde ich fragen, wenn ich Arzt wäre, was würde ich sagen, wenn ich Pharmavertreter wäre?

Auch die Pharmaindustrie schult übrigens ihre Vertreter. Es gibt Lehrbücher der Meinungsmanipulation für Pharmavertreter. Unsere Rollenspiele sind zwar prima angekommen, aber auf so einem Level, da gibt’s zwar viel Interaktion, aber wenig Input. Es wurde auch gesagt, ist klar, ihr seid hier gegen Pharma, aber wir wollen keiner Gehirnwäsche unterzogen werden. Das war natürlich nicht unser Ziel, wir haben dann in den darauf folgenden Semestern die Anmerkungen der Studierenden ernst genommen und das Format zunehmend problemorientierter aufgestellt, interaktiver. Sie hatten z. B. vorgeschlagen, auch mal einen Pharmavertreter einzuladen, um auch die andere Seite zu hören. Das fand ich völlig legitim. Ich habe dann über mehrere Semester versucht, einen zu finden, der bereit gewesen wäre aus seinem Arbeitsalltag zu berichten. Wir hatten dann auch ein paarmal eine Zusage bekommen, aber alle haben in letzter Minute abgesagt.

Dann haben wir uns entschieden, einen hervorragenden Kollegen zu bitten, Thomas Lindner, einen niedergelassenen Arzt, der sich vor Jahren entschieden hat, bei der ‚Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte‘, mitzuarbeiten – sie nennt sich ‚Mezis‘, eine Abkürzung für: ‚Mein Essen zahl ich selbst‘. Er ist übrigens einer der Mitbegründer. Der kann den Studierenden einfach aus seiner Perspektive erzählen, aus langjähriger Erfahrung mit Pharmavertretern, warum er ihre Besuche eines Tages nicht mehr wollte. Er hat sich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt.

Das finde ich einen wesentlich spannenderen Ansatz, als wenn jetzt ein Pharmavertreter sich hinstellt und seine Tätigkeit schönredet. Wir haben hier 16 Veranstaltungstermine, also nicht viel Zeit, um eine ganz spezifische Seite der Medaille oder des Arztseins darzustellen. Viele Studenten gehen ja noch mit ziemlich idealistischen Vorstellungen vom Arztberuf und von sich selbst ins Studium. Wenn ich denen sage: Also wenn Sie mein Patient sind, dann erwarten Sie von Ihrem Arzt doch, dass es ihm um Ihre Krankheit geht, und ausschließlich um deren Behandlung. Dass Sie das richtige Medikament bekommen, in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt, und dass dieses Medikament einen vernünftigen Preis hat. Die Studenten verstehen die Frage nicht, weil sie das erst mal für selbstverständlich halten. Dass den Arzt auch andere Motive leiten könnten, dass es viele Verlockungen gibt und gutdotierte Nebentätigkeiten, ist nicht in ihrem Bewusstsein.

Priorität Profit

Desillusionierung ist zwar nicht unser Ziel, aber sie ist unvermeidlich. Wir sind in einer Welt angelangt, wo diejenigen, die die Medikamente herstellen, das ja nicht tun, weil sie die Interessen der Patienten im Vordergrund haben oder die der Ärzte. Sie haben andere Prioritäten, ihre Aktionäre sind ihnen wichtig, ihre Managergehälter, ihr Profit. Wir haben es im Gesundheitssystem immer mehr – und bei der Pharmaindustrie sowieso – mit den Renditeerwartungen der Aktionäre zu tun und da zählt eben nur: den Gewinn erhöhen, die Kosten reduzieren und verkaufen! Dass sich das Marketing der Pharmafirmen so stark auf die Ärzte konzentriert, liegt daran, dass die Konzerne hierzulande kaum Einfluss auf Patienten nehmen können. Werbung darf – im Gegensatz z. B. zu den USA – nur für nicht verschreibungspflichtige Präparate gemacht werden. Und deshalb eben geht es bei den Arzneiverschreibungen der Ärzte um riesige Summen.

Ja? Und was bedeutet das für Patienten und Ärzte? Wie kann man sicherstellen, dass die Patienten genau die Therapie bekommen, die notwendig ist, also unter dem Gesichtspunkt: ‚Rational medical Treatment‘?! Das ist nicht leicht zu vermitteln, denn es ist vergleichsweise nicht viel, was wir diesen mächtigen Interessen entgegensetzen können. Aber wir haben einen Anfang gemacht. Wir sehen es in den Seminaren, es scheint zu funktionieren. Anfangs, da waren die Studierenden schon etwas älter, konnten schon viel mitreden und hatten z. T. eine kritische Haltung gegenüber der Pharmaindustrie. In den letzten paar Semestern haben wir immer sehr junge Studierende gehabt, unter 20, ganz frisch, ohne jede Idee. Vollkommen naiv, wenn man es negativ ausdrücken will. Andererseits, sie waren kaum vorbelastet und ich habe immer den Eindruck, die Lernkurve von denen ist steil ansteigend, die machen richtig leidenschaftlich mit, das macht schon Spaß! Und ich freue mich, dass Transparency International/Deutschland jetzt auch regelmäßig einen Vertreter ins Seminar schickt, den Mediziner Wolfgang Wodarg. Transparenz ins Gesundheitssystem reinbringen, das ist immens wichtig!

Man ist als Arzt ja den Zudringlichkeiten und Manipulationen nicht hilflos ausgeliefert. ‚Mezis‘ z. B. sagt – was ich einen hervorragenden Ansatz finde: bei diesem Bestechungssystem machen wir nicht mehr mit! Aber man muss sich auch fragen, wie kommt das eigentlich. Das System ist ja nicht gestern vom Himmel gefallen. Wir haben erlaubt, dass dieses System sich in unserem Gesundheitssystem breitmachen durfte. Ärzte, Politiker, Krankenkassen. Es wurde ihm Tür und Tor geöffnet.

Der Arzt ist sozusagen die leichteste Beute, er muss sein Geld verdienen, seine Patienten behandeln und er muss sich noch regelmäßig weiterbilden nebenbei. Die gesamte Medikamentenflut ist vollkommen unübersichtlich geworden. Da ist der Pharmavertreter gern behilflich, zeigt dem Arzt die neuesten Studien, fasst alles brillant zusammen, bringt vielleicht noch einen Auszug aus einer renommierten Fachzeitschrift mit, und schon hat sozusagen eine personalisierte Weiterbildung stattgefunden. Kostenlos. In kürzester Zeit hat der Arzt den Eindruck, er ist absolut up to date.

Aber was der Vertreter bringt und erzählt, ist natürlich mit einem Rattenschwanz von Interessen versehen, die Studien sind möglicherweise mitfinanziert worden von seinem Unternehmen, das dieses Medikament an den Markt bringen möchte. In so einer Studie kann man ja viel manipulieren. Auch welche Berechnungen man anstellt, ist entscheidend, ob’s ein absolutes Risiko oder ein relatives Risiko ist usw. Es ist wichtig zu zeigen, dass so was überhaupt existiert, dass Unternehmen Studien als ‚wissenschaftlich‘ präsentieren, sie von hochkarätigen Autoren verfassen lassen und in wissenschaftlich hochkarätigen Zeitschriften präsentieren können, obwohl es sich in Wahrheit nur um Mauscheleien handelt. Das muss beendet werden, es muss Transparenz geschaffen werden. Vielleicht müssen wir auch darüber nachdenken, wir als Ärzte, uns nicht mehr alles vormachen und alles bezahlen zu lassen.

Auch nicht die ärztliche Fortbildung. Dazu muss man wissen, Ärzte müssen eine kontinuierlichen Fortbildung nachweisen in Form von Punkten. Die Fortbildungspflicht hat erfüllt, wer innerhalb von fünf Jahren 250 Fortbildungspunkte erworben hat. Die Zertifizierung der Fortbildungsveranstaltungen mit dem Recht zur Punktevergabe ist die Sache der Ärztekammern. Auch die Pharmaindustrie lässt sich ihre Fortbildungsveranstaltungen zertifizieren und viele Mediziner nutzen das Angebot und lassen sich ihre Fortbildung von ihr finanzieren.

Der springende Punkt

Das ist der Punkt. Wir müssen einfach einen Unterschied machen, zwischen Pharmaveranstaltungen und Fortbildung. Es gibt ja auch die Möglichkeit, dass Ärzte anderen Ärzten Fortbildung anbieten. Das ist so der Schritt, den wir jetzt gegangen sind. Der erste,von einer größeren Reihe, indem wir unser Seminarthema auch für Kollegen angeboten haben.

Ende Januar 2013 haben wir ein Wochenendseminar mit dem Titel: ‚Advert Retard® – Industrielle Interessen, ärztliche Berufspraxis & rationale Arzneimitteltherapie‘, für Ärztinnen und Ärzte veranstaltet. Es kamen fast 40! Wir haben ein etwas lockeres Motto gewählt: „Alle Ärztinnen und Ärzte sind durch die Pharmaindustrie beeinflusst – nur ich nicht!“ Der Satz ist aus einer Studie, die hatte sich mal damit befasst. Ärzte wurden gefragt: Wer von euch glaubt, dass Ärzte beeinflusst sind durch die Pharmaindustrie? ALLE glauben das. Und wenn man aber fragt: Wer von EUCH ist beeinflusst? … ICH ja nicht! Das ist so der Einstieg ins Wochenendseminar gewesen.

Das Seminar bietet den Ärztinnen und Ärzten Vorträge zum Thema von verschiedenen sehr guten Experten, wie z. B. dem Pharmakologen Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen, er war viele Jahre Vorstand der Arzneimittel-Kommission, ist seit 2011 Expertenbeirat für Arzneimittel von Stiftung Warentest. Und er ist auch in der Redaktion von Gute Pillen Schlechte Pillen, der unabhängigen Zeitschrift für medizinische Laien. Von ihm stammt der Satz: ‚Die Naivität der Mediziner gegenüber der Industrie ist erschreckend.‘ Jedenfalls, wir hatten geballtes Expertenwissen, haben effiziente Strategien vorgestellt, um schnell und zuverlässig an unabhängige Informationen über rationale Arzneimitteltherapie zu kommen, und es gab angeregte Diskussionen über mehr Transparenz und darüber, wie man immun wird gegen die Einflüsse der Pharmaindustrie. Und es gab sogar echte Fortbildungspunkte.

Sehen Sie, es geht doch!! Wir haben, um das alles organisieren zu können, auch einen Verein gegründet: CMI, Certified Medical Independence (zertifizierte medizinische Unabhängigkeit), bei der Ärztekammer mussten wir ja unseren Antrag stellen, und das haben die problemlos akzeptiert. Alle Teilnehmer des Seminars bekamen von uns ein Zertifikat am Ende. Das können sie sich in die Praxis reinhängen und damit darauf hinweisen, ich bin ein unabhängiger Arzt oder Ärztin. Daran können auch die Patienten sehen, dass ihr Arzt sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzt. Man könnte natürlich weiter gehen und sagen: Wir gucken mal und stellen ein weiteres Zertifikat aus, nämlich für die Ärzte, die die Arzneiverordnung der Arzneimittelkommission zur Grundlage nehmen für ihre Therapie. Denn viele Ärzte gucken nur, was ihnen ihr Computerprogramm vorschlägt, das ihnen gesponsert wurde von Hoechst, Ratiopharm, Bayer oder Roche.

Wir wissen, wir haben einen schweren Weg vor uns, denn die Problematik ist vielschichtig. Viele Ärzte unterschätzen sie, viele nutzen das Angebot der Industrie. Mehr und mehr sind allerdings auch schon kritischer eingestellt als früher. Aber manches bemerkt man auch kaum, ich denke, es ist wie bei einem Initiationsritual. Schon wenn sie im Studium ihre ersten Praktika auf Station machen, dann sehen sie überall, wohin sie auch kommen, die Rote Liste stehen. Das ist für Studierende sozusagen die Bibel der Medikamente. Heute gibt’s das auch fürs Smartphone und für den Hausarzt zum Einbinden in die Praxissoftware. Die Präparate sind u. a. nach Indikations- und Wirkstoffgruppen geordnet und gelten als unverzichtbar für die Verordnungstätigkeit des Arztes. Dass es aber ein von der Pharmaindustrie gesponsertes Kompendium ist, das erzählt den Studenten keiner.

Alle sind dankbar für dieses nützliche Hilfsmittel. Die Studenten werden im Studium damit groß, dass auf jedem Kugelschreiber, jedem Block, jedem Kalender und jeder Computermaus ein Firmenname steht. Das ist für sie total normal. Sie wachsen da rein, bekommen dann schon auch mal eine Einladung zu einer Veranstaltung in die USA, wo sie was präsentieren, und dann macht man ein Projekt zusammen. Super! Total sympathisch der Vertreter. Es gibt kaum noch Fortbildung, die nicht bezahlt wird von der Industrie. Und wenn sie Studierende fragen, selbst die Abschlusspartys werden gesponsert, z. B. von großen Versicherungsunternehmen. Das ist alles total normal, warum soll man es hinterfragen?!

Positivliste fehlt

Es gab ja mal das Projekt ‚Positivliste‘, darüber haben wir beim Wochenendseminar auch gesprochen, im Zusammenhang mit der Roten Liste. Diese Positivliste für Arzneimittel sollte Medikamente enthalten, die von nachweislich hohem therapeutischen Nutzen sind, kostengünstig und von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Das Projekt ist dann aber damals in den 90er Jahren – zumindest nach Aussage von Prof. Ludwig von der Arzneimittelkommission – durch die Rot-Grüne Regierung abgeschmettert worden. Es ist, glaube ich, insgesamt dreimal gescheitert im Lauf der Zeit.“ (Die meisten EU-Mitgliedsländer, wie Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Schweden, verfügen schon lange über eine Positivliste. Anm. G. G.) „In Deutschland sind etwa 20.000 verschreibungspflichtige Medikamente auf dem Markt, viele davon sind überflüssig. Wir brauchen einfach eine Positivliste die festlegt, welche Arzneimittel wirklich nützlich sind und für eine gute medizinische Versorgung ausreichen.

Ich persönlich glaube, das alles ist politisch so gewollt. Die Politik hätte ja z. B. die Möglichkeit, uns unabhängige Wissenschaftler zu finanzieren, Experten, auf die wir uns verlassen können. Die an nichts mitgewirkt haben, ihre kritische Unabhängigkeit sich erhalten konnten. Man hat mal Hochschulprofessoren deshalb verbeamtet, damit sie loyal sind und unabhängige Wissenschaft vorantreiben. Heute ist es so, dass die Universitäten wegen Unterfinanzierung zur ‚Drittmitteleinwerbung‘ gezwungen werden und von privaten Geldgebern abhängig sind.

Die Drittmitteleinwerbung ist ja letztlich das, wonach Sie heutzutage beurteilt werden als Hochschullehrer. Also ich beobachte das mit starkem Unbehagen. Dass z. B. die Uni Köln Verträge mit Bayer abschließt, die nicht transparent sind, ist inakzeptabel. Das Verwaltungsgericht Köln hat im Dezember 2012 entschieden, dass der Vertrag über die Forschungskooperation zwischen der Bayer Pharma AG und der Universität Köln geheim bleiben darf. Man muss wissen: Zwischen Bayer und der Uni Köln – die ein Zentrum für klinische Studien hat – existiert angeblich die umfangreichste Zusammenarbeit, die je eine Hochschule eingegangen ist.

Auch an der Charité in Berlin gibt’s seit 2010 Forschungsverträge mit Sanofi-Aventis. Und warum? Weil sie jahrelang zugrunde gespart wurde! Solche Verflechtungen führen automatisch zu Interessenkonflikten. Sie verhindern die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Studenten wissen nicht mehr, ob der Hochschullehrer ihnen in der Vorlesung schon Werbung reingedrückt hat, weil er vielleicht grade zu dem Wirkstoff forscht.

Wir müssen sicherstellen, dass die Studenten eine unabhängige Ausbildung bekommen und dass die Universitäten genügend Geld bekommen und ihrer Aufgabe gerecht werden können. Es muss eine der Aufgaben der öffentlichen Hand sein, die Unabhängigkeit von Medizin und Wissenschaft finanziell zu fördern. Die Politik versagt in diesem ganzen Bereich vollkommen. Grade wenn es um Gesundheit geht, muss man sich zweimal Gedanken darüber machen. Auch darüber, wie wir das eigentlich finanzieren wollen und wie halten wir die Leute gesund?!

Wie tief das alles unbemerkt eindringt, das merken wir an unseren Studenten. Wir machen uns manchmal den Spaß und fragen: Was ist das für ein Medikament, von dem ihr zuletzt gehört habt? Meistens wissen sie dann nur den Handelsnamen. Es ist oft sogar üblich, dass bei Ausbildungsveranstaltungen in der Charité nicht der Wirkstoffname, sondern der Handelsname genannt wird. Was ja nicht unbedingt sein soll! Oder ich frage zum Beispiel: Eure herzkranke Tante möchte eine Auskunft über ein Präparat, ihr seid ja im 3. Semester, und sie will wissen, ob das, was sie nimmt, gut und richtig ist. Was macht ihr jetzt? Als Erstes kommt … nein, nicht Rote Liste, es kommt Wikipedia oder googeln! Das machen nicht nur die Studenten so. Aber sind die Einträge da frei vom Einfluss der Pharmaindustrie? Und ich sage, schaut euch mal die ersten 10 Webseiten genauer an, wieso steht diese Webseite an 3. Stelle? Wer finanziert die Seite, kann man das überhaupt erkennen und herausfinden? So in etwa kann man das mit den Studenten durchdiskutieren. Und was dann noch … unter den Top Ten ist, ich sag’s mal so, ist die Bravo für Omas, die Apothekenrundschau.

Dass es Alternativen gibt, ohne Pharmawerbung, das muss man eben erst gesagt bekommen. Wir sind die einzige Veranstaltung in Deutschland, glaube ich, die die Studierenden im Unterricht darüber aufklärt, dass z. B. eine Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft existiert, dass sie eine Zeitschrift Arzneiverordnung in der Praxis herausgibt und dass man auch ein Behandlungskompendium bestellen kann mit eigenen Informationen zu Wirkstoffen. Und dass es in Deutschland drei selbständige pharmakritische Zeitschriften für evidenzbasierte Medizin gibt: Arzneimittel-Telegramm, Arzneimittelbrief und den Pharmabrief der BUKO-Pharmakampagne. Deren Gemeinschaftsprojekt ist übrigens die Patientenzeitschrift Gute Pillen Schlechte Pillen. Es stehen also zuverlässige, unabhängige Informationsquellen zur Verfügung. Es gibt viele Initiativen und sehr gute internationale Vernetzungen mit unabhängigen Organisationen. Wir müssen daran arbeiten, dass es in diesem Sinn weitergeht, und schon bei den Studierenden die Widerstandskraft stärken!“

* Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Grotjahn zugleich weitgehende rassehygienische und eugenische Vorstellungen in seinen Schriften äußerte. Anm. G. G.