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Archiv-Artikel

Kontrolle und Befreiung

KAPITALISMUS Elmar Altvater und Raul Zelik über die „Vermessung der Utopie“

Raul Zelik, Literat und Sozialwissenschafter, und Elmar Altvater, emeritierter Professor für politische Ökonomie und Mitglied im Wissenschaftsbeirat von Attac, unterhielten sich am Dienstag über ein Gespräch, das in dem jüngst erschienenen Buch „Vermessung der Utopie“ nachzulesen ist. Obwohl das Gespräch über das Gespräch bereits zum zweiten Mal stattfand, waren etwa 100 Zuhörer ins Studio des Gorki Theaters gekommen.

Die Probleme, mit denen die Welt kämpft, seien bekannt: Klimawandel, Ungleichheit, Mangel auf der einen, Überkapazitäten auf der anderen Seite. Der Kapitalismus sei zwar noch nicht zusammengebrochen. Dies könne aber, so Zelik, „jederzeit passieren“. Damit das, was danach kommt, nicht „noch barbarischer“ werde als der gescheiterte Sozialismus, müsse man Alternativen diskutieren. „Vermessung der Utopie“ als Programm: Es gehe darum, sich einem Nichtort jenseits von Realsozialismus und „real existierendem Kapitalismus“ anzunähern.

Zuerst müsse man sich aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“, wie Altvater in Anlehnung an Max Weber sagte, befreien, um den Kapitalismus nicht mehr als Ende der Geschichte zu begreifen, sondern als gemacht und veränderbar. Die etablierten Wissenschaften, allen voran die Ökonomie, die als Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft dem Verwertungszwang unterwarf, böten dafür kein Instrumentarium. Der Wachstumszwang des kapitalistischen Systems zerstöre unaufhaltsam seine eigenen Ressourcen. Dies sei nur ein Paradox des ökonomischen Systems. Laut Altvater beruht er auf dem „Missverständnis“ des Begriffs der Ökonomie, der bei Aristoteles noch ausgewogen Haushalten meinte, das dem Kapitalismus aber fremd sei. Dies illustriert Zelik mit der Entstehungsgeschichte des „freien“ Computerbetriebssystems Linux, das von seinen Nutzern entwickelt wurde. Dass dieses Modell trotz des Open-Source-Anspruchs aber mehr mit Selbstausbeutung als mit Emanzipation zu tun hat, ist mit dem Kapitalismusbegriff von Altvater und Zelik nicht zu verstehen.

Letzterer machte an der Durchsetzung der Marktwirtschaft in lateinamerikanischen Ländern durch Enteignung und Vertreibung deutlich, dass Demokratie und Kapitalismus nicht zwei Seiten einer Medaille sind. Im Gegenteil. Ausgerechnet auf den autoritären Sozialpopulisten und Ahmadinedschad-Freund Chávez bezieht sich Zelik, um zu zeigen, dass ein Wirtschaftssystem jenseits des Kapitalismus eine Mehrheit haben kann. Das Publikum war verzückt. Die Auflösung des Medienmonopols, wie in Venezuela geschehen, sei dabei notwendig für die Einlösung des „bürgerlichen Demokratieversprechens von 1789“. Altvater resümiert: „Wir müssen die Medien kontrollieren und die Finanzmärkte befreien!“

Konsequenterweise erscheint Zelik somit die Verstaatlichung der Banken und die Kritik der FAZ am wirtschaftlichen Wachstumsparadigma als Annäherung an die Utopie. Dass es aber eine Vielzahl von Machtverhältnissen jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik gibt, wurde spätestens deutlich, als sich am Ende der Veranstaltung zum männlichen Podium ausschließlich männliche Mitdiskutanten gesellten. So schien zumindest im Gorki Studio das bürgerliche Demokratieversprechen eingelöst. SONJA VOGEL

■ Raul Zelik, Elmar Altvater: „Vermessung der Utopie – Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft“. Blumenbar, Berlin 2009, 206 Seiten, 14,90 €