Filmstart „Mommy": Auszeit von der Nabelschnur

Im neuen Werk von Regie-Wunderkind Xavier Dolan versuchen Mutter und Sohn, aus ihrer gestörten Beziehung auszubrechen.

Der Protagonist: Steve, gespielt von Antoine Oliver Pilon. Bild: Shayne Laverdiere/Weltkino Filmverleih

„Schnallen Sie sich an, es wird eine stürmische Nacht!“, ruft Bette Davis in „All About Eve“ ihren Gästen zu. Und schon gehört ihr alle Aufmerksamkeit in Joseph L. Mankiewicz’ sarkastischer Satire über das amerikanische Showbusiness. Selbstsicheren Schrittes stolziert Davis in der Rolle der Theaterschauspielerin Margo Channing die große Treppe hinunter und wirft sich buchstäblich ins Partygeschehen.

Hier kann man erleben, wie sich eine Diva als Diva zu inszenieren weiß, ihr Glamour und ihre Grandezza das ganze Bild und die Szene einnehmen. Dabei übersieht die Kamera jedoch nicht die narzisstische Kränkung einer Schauspielerin, die weiß, dass sie nicht mehr die Nummer eins ist.

Auf durchaus verwandte Weise versteht es auch Xavier Dolan, seinen Heldinnen und Helden großartige Auf- und eben auch Abtritte zu verschaffen, ihnen damit auch ihre Vorstellung von sich selbst zu lassen. Für fünf Filme hat der 25-jährige Dolan bisher das Drehbuch geschrieben und inszeniert, in dreien davon spielt er selbst mit.

Die Filmwelt feiert den frankokanadischen Wirbelwind, der für das flippige Outfit seiner Darsteller genauso verantwortlich zeichnet wie für den dynamischen Schnitt, seit einer Weile als Wunderkind. Seine überbordende Energie zieht Dolans Kino aus der Hingabe, mit denen er seine Figuren dabei beobachtet, wie sie ihre ex- und egozentrischen Seiten, ihre Neurosen und Macken, ihre Liebe und ihren Hass, ihre offenen und geheimen Sehnsüchte hemmungslos ausleben – und derweil ihren ganz eigenen Glamour entfalten.

1:1-Bildformat

„Schnallen Sie sich an, es wird eine stürmische Nacht!“ Diesen legendären Satz zitiert die Mutter aus Dolans neuem Film „Mommy“, für den er auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gemeinsam mit Jean-Luc Godard den Jurypreis bekam. Er könnte als Motto über dem Film stehen, der sich wie seine Helden nicht kontrollieren lässt und innerhalb seines ungewöhnlichen 1:1-Bildformats eine eigene durchgeknallte Erzähldramaturgie entwickelt.

„Mommy“. Regie: Xavier Dolan. Mit Antoine-Olivier Pilon, Anne Dorval. Kanada 2014, 139 Min. Start: 13. Novemver 2014.

Manchmal wirkt das, als habe man eine große Oper in die Gummizelle gesteckt. Etwa wenn eine Partyszene die drei Hauptfiguren zum ersten Mal zusammenbringt: Die draufgängerische resolute Diane hat die schüchterne Nachbarin zum Abendessen eingeladen. Ihre Stirn legt sich in Falten, gleichzeitig kann sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als plötzlich lautstark Musik ertönt und ihr Sohn Steve das Zimmer betritt.

Es ist ein sexy Auftritt: Schwarz lackierte Fingernägel, rot geschminkte Lippen, trägerloses Hemd. Mit lasziven Bewegungen fordert der Sohn die beiden Frauen zum Tanzen auf, umfasst die Hüften der Mutter, als sei er ihr Liebhaber. Zunächst abwehrend können sich die beiden seiner Freude am tänzerischen Spiel nicht erwehren. Es ist ein schöner, ausgelassener, aber auch ein spannungsgeladener Moment. Steve leidet an ADHS und überfordert seine verwitwete Mutter mit einer Energie, die stets auch in Depression und Aggression umschlagen kann.

Ödipale Exzesse

„Alles über Mütter“ – das könnte als Überschrift über Dolans bisherigen Filmen stehen. Man könnte auch von ödipalen Exzessen sprechen. Die Mutterfigur aus dem Liebesthriller „Sag nicht, wer Du bist“ scheint direkt aus einem Hitchcock-Film in die kanadische Provinz herübergewandert zu sein. Mit den Augen des jungen Besuchers hält die Kamera dem kalten Blick der ältlichen Frau stand, wenn sie auch nach dem Tod ihres Sohnes dessen Leben weiter dominiert. In „Lawrence anyways“ wiederum schwenkt das Objektiv von einem Gesicht aufs nächste, als der Sohn seiner Mutter erklärt, dass er sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen möchte.

Das Mutterprinzip und -gesetz, die Überfrau, das Weib, die Gebärende, das Mütterliche – in Dolans Filmen scheinen die Söhne immer noch von einer unsichtbaren Nabelschnur festgehalten und gefesselt. Sie brauchen den Blick der Mutter, um zu existieren, und wehren ihn zugleich ab, wie in Dolans autobiografischem Regiedebüt „Ich habe meine Mutter getötet.“

War diese wutschnaubende Abrechnung noch aus der Perspektive des 16-jährigen Hubert (von Dolan selbst gespielt) gedreht, der gerade seine Homosexualität entdeckt und sich von der Mutter nicht gebührend wahrgenommen fühlt, nimmt „Mommy“ nun ihre Perspektive ein. Als eine Art mütterliche Rache möchte Dolan sein neues Werk verstanden wissen, umso schöner, dass in beiden Filmen die Mutter von der großartigen Anne Dorval gespielt wird.

Das ontologische Dispositiv

Zu Beginn von Dolans erstem Film sieht man sie in Huberts verächtlichem Blick ein Brötchen essen, dabei fallen ihr ständig Krümel aus dem Mundwinkel. Er verschließt die Augen, wie auch vor ihrem seltsamen Outfit, den Felljäckchen, Blumenblüschen, rosafarbenen Negligees mit Spitzenrand. In „Mommy“ hingegen darf Dorvals Mutterfigur den schlechten Geschmack zum Stilprinzip erklären.

Und weil sie sich selbst in ihrer knallengen, schrillen Teeniekluft heimisch fühlt, findet auch der Zuschauer sie umwerfend attraktiv. Manchmal wirken ihr ordinäres Auftreten, ihre derben Sprüche und Fluchtiraden wie ein Schutzschild, so als müsse Diane permanent ihre eigene Verletzlichkeit überspielen.

Bei Dolan ist ein gestörtes Mutter-Sohn-Verhältnis ein unabänderliches Gesetz, gewissermaßen ein ontologisches Dispositiv, das durch die ADHS-Erkrankung von Steve nun wie durch eine Lupe vergrößert wird. Diane und Steve können einander nur im Extrem begegnen, sich küssen oder schlagen.

Doch wie die Darsteller in einer antiken Tragödie versuchen auch sie den Ausbruch. Ein Stück des Weges begleitet sie dabei die zurückhaltende Nachbarin Kyla, die ein eigenes Trauma zu bewältigen hat. Gemeinsam nehmen sich die drei eine Auszeit vom Schicksal, gemeinsam bündeln sie ihre Einsamkeit zu einer Trutzburg, hinter der sie das eigentlich Unmögliche leben. Nur zu gern leidet und freut man sich mit ihnen.

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