: ACHSE DES DUBSTEP VON TIM CASPAR BOEHMEBlume im Müll
Kevin Martin ist einer der wandlungsfähigsten Musiker der experimentellen Popszene. In den Neunzigern unter anderem als Saxofonist mit seiner brachialen Jazzcore-Truppe God unterwegs, machte sich der Londoner Musiker in den vergangenen Jahren als The Bug um die Verschweißung von Dancehall Reggae, Dubstep, HipHop, Industrial und anderen randständigen Sounds verdient. Was er auch tat, Martin klang meistens laut und anstrengend. Mit seinem Projekt King Midas Sound tritt er jetzt den Beweis an, dass er eine weiche Seite hat. Aus Ingredienzen wie Dancehall Reggae, Dubstep und Dub kocht er ein bis auf die Knochen abgeschabtes Stew. Zum Partner bestimmte Martin den Dichter Roger Robinson, der schon auf dem letzten The-Bug-Album kurz zu hören war. Robinson singt mit fragiler Falsett-Stimme, gelegentlich springt ihm die Sängerin Hitomi zur Seite. Martins Autoaggressivität ist auf „Waiting For You“ zur dunkel brodelnden Paranoia geworden. Dieses hallende Unbehagen dient als Fundament für Robinsons scheue Introspektion. Aus dem Dialog der beiden entsteht eine verlassene Stadtlandschaft mit Industriebrachen. Durch diese Klang-Tristesse irrt ein vereinzelter Rufer. Der Wind bei King Midas Sound weht eisig, unter der wüsten Oberfläche wird aber ergreifende Zartheit erkennbar, die im Dubstep so nur selten zu hören ist.
■ King Midas Sound: „Waiting For You“ (Hyperdub)
Liebe im Weltall
Dubstep ist längst kein britisches Phänomen mehr. Einige der wichtigsten Protagonisten kommen aus den Niederlanden. Dort scheint man das Lokale sehr wörtlich bzw. numerisch zu nehmen. So nennt der Produzent Martyn sein kleines Label 3024, passend zur eigenen Postleitzahl. Dave Huismans aus Den Haag tat es ihm gleich und wählte als Künstlernamen die nur bedingt eingängige Zahl 2562, auch bei ihm zentraler Bestandteil der Hausadresse. Man könnte hinter seinem Pseudonym ebenso gut einen komplizierten Code vermuten, so etwas wie eine synthetische Formel seiner irrwitzigen Programmierarbeit. Bei Huismans klingeln einem nach kürzester Zeit die Ohren, wie beiläufig seine elegant verstiegenen Rhythmusungetüme im starren Viervierteltakt-Schema Platz finden, von den unzähligen Klangschattierungen ganz zu schweigen. Effekte werden bei ihm zu eigenständigen musikalischen Elementen, jede noch so kleine Hall-Nuance bekommt ihren Sinn. „Unbalance“ fasst die Sache als Titel präzise zusammen. Hier geht es nicht um fein austariertes Gleichgewicht, sondern um die komplexe Selbstorganisation klanglicher Mikroereignisse, die voneinander weg- oder gegeneinander anstreben. Dass die Tracks trotzdem Funk und Groove atmen, liegt am rhythmischen Exzess. Vielleicht klingt Liebe im Weltall tatsächlich genau so wie bei 2562.
■ 2562: „Unbalance“ (Tectonic)
Offen im Mix
Berlin hat sich in den vergangenen Jahren zum Dubstep-Distrikt entwickelt. Was nicht sonderlich verwundert, da sich in der Stadt zahllose Elektronik-Produzenten herumtreiben. Überraschend ist eher die Tatsache, dass das Berghain, eine Trutzburg der geraden Bassdrum, seine Tore für den verstolperten Tiefen-Groove des Dubstep geöffnet hat. Unter dem Titel „Sub:stance“ hat man einen ernst zu nehmenden Dubstep-Clubabend ins Programm aufgenommen. Verantwortlich für das Gelingen des nicht selbstverständlichen Experiments ist Paul Rose alias Scuba, einer der frühesten Vorkämpfer der Londoner Dubstep-Szene und Betreiber des Labels Hotflush Recordings. Scuba, inzwischen in Berlin ansässig, betreut die Serie seit dem Sommer 2008 und hat die größten Namen der britischen Bassmusik in den weltberühmten Techno-Club hinter dem Ostbahnhof geladen. Dass die Sache so perfekt aufgeht, liegt nicht nur an den subsonischen Tieftönern des Berghain-Soundsystems, sondern auch an Scubas Interesse am Kreuzen von Stilen. Sein Mix für das Berghain-Label Ostgut Ton bildet das ganze Spektrum der Sub:stance-Partys ab. Die nervöse Fußverknotungsrhythmik des Dubstep verbindet sich hier sogar mit der Strenge von Techno und den Hooklines von House. Damit dokumentiert Scuba, wohin die Reise der Clubmusik geht.
■ Scuba: „Sub:stance“ (Ostgut Ton)