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Archiv-Artikel

„Ungefähr jeder Vierte bleibt“

MIGRATION Der Sozialwissenschaftler Andreas Kapphan über die stärkere Zuwanderung aus Ländern Südeuropas und die Berliner Willkommenskultur

Andreas Kapphan

■ Jahrgang 1966, ist Sozialwissenschaftler und Referent bei Berlins Integrationsbeauftragter. Zuvor war er bei der Bundesbeauftragten tätig. An der Humboldt-Uni arbeitete er mit dem Stadtforscher Hartmut Häußermann zusammen. Der gebürtige Schwabe ist vor 25 Jahren nach Berlin migriert.

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Kapphan, seit 2010 verzeichnen Deutschland und Berlin wieder eine stärkere Zuwanderung. Woher kommen die Leute so?

Andreas Kapphan: Die meisten nach wie vor aus Europa: aus Polen, den baltischen Staaten, Russland, Rumänien und Bulgarien. In den letzten Jahren kommen wieder mehr Zuwanderer aus Spanien, Italien und Griechenland.

Was unterscheidet Zuwanderer aus Südeuropa von der Generation ihrer Großeltern, die vor 50 Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen?

Was damals passierte, war eigentlich der ungewöhnliche Fall von Zuwanderung: Die deutsche Industrie hat in großem Maßstab Arbeitskräfte angeworben. Gekommen sind vor allem Handwerker und Bauern. Zu einem Großteil waren es Väter und Mütter, die ihre Familien nachgeholt haben. Was jetzt passiert, ist die Normalität von Wanderungsgeschehen: Junge, qualifizierte, zum Teil studierte Personen wandern aus ihrem Herkunftsland aus, weil sie dort arbeitslos sind und sich anderswo bessere Chancen versprechen.

Kommen die jungen Leute auf gut Glück nach Berlin, oder haben sie eine Jobzusage?

Viele kommen erst mal, um sich vor Ort zu informieren. Das geht vom Ausland aus schlecht. Nicht alle, die kommen, finden auch wirklich Arbeit, geschweige denn bleiben auf Dauer hier. Aus der Geschichte von Zuwanderung wissen wir, dass ungefähr jeder Vierte bleibt. Die meisten gehen doch zurück. Aus Sicht der Empfängerländer sieht es nur so aus, als ob die meisten blieben.

Wer für sich keine Perspektiven in Berlin entwickelt, zieht also weiter?

So ist es. Das, was wir vor 150 Jahren als kleinräumige Mobilität zwischen einer Stadt wie Berlin und den umgebenden ländlichen Gebieten hatten, ist heute durch neue Informations- und neue Verkehrstechnologien wesentlich großräumiger geworden. Wir haben eine vollkommen normale Arbeitskräftemobilität in der EU.

Was sind die Voraussetzungen, um sesshaft zu werden?

Man muss Arbeit finden. Das ist in Berlin gar nicht so einfach. Wir haben hier eine sehr hohe Arbeitslosigkeit bei Ausländern, sie liegt bei 16 Prozent. Auch weil die Arbeitslosigkeit hier noch stärker als anderswo mit dem Ausbildungsstand zu tun hat. Unter den arbeitslosen Migranten in Berlin sind sehr viele Geringqualifizierte. Deswegen gibt es tatsächlich eine reale Chance für Zuwanderer aus Spanien, Italien oder Griechenland, in Berlin Arbeit zu bekommen, wenn sie denn gut qualifiziert sind.

Was macht Berlin sonst noch attraktiv?

Die Stadt ist weltweit für junge Migranten interessant, nicht nur für Südeuropäer. Es ist einfach eine junge, hippe, lebendige und vergleichsweise günstige Stadt.

Und wie ist es um die Willkommenskultur in unserer Stadt bestellt?

Das Selbstverständnis, dass Zuwanderer Teil dieser Stadt sind, ist unheimlich groß. Das spüren die Migranten. Die junge Berliner Bevölkerung ist deutlich offener und internationaler als früher. Wenn man in der U-Bahn fährt, hört man Leute, die auf Englisch oder Spanisch telefonieren. Vor 50 Jahren konnten viele Berliner keine Fremdsprache.

Andere Gruppen wie die Roma stoßen auf Ressentiments. Warum haben es Griechen und Spanier so viel leichter?

Das ist vor allem eine Frage des sozialen Status und der Qualifikation. Wenn es sich um Armutszuwanderung handelt und die Menschen sichtbar anders sind, haben die Deutschen Probleme. Vor allem haben wir einen ganz weit verbreiteten Antiziganismus. Aber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Haben die Zuwanderer den Berlinern etwas voraus?

In der Regel haben Zuwanderer Erfahrungen mit politischen und wirtschaftlichen Krisen. Und für den Fall, dass wir auch in eine solche hineinschlittern sollten, könnten sie uns helfen, gelassener zu bleiben.

Wie wird Berlin in puncto Zuwanderung in 20 oder 30 Jahren aussehen – haben Sie da eine Vision?

Ich hoffe, die Stadt ist genauso bunt und quirlig wie heute. Die Gefahr ist, dass Berlin den Weg geht, den andere Metropolen eingeschlagen haben. Der große Plusfaktor von Berlin ist ja, dass die Stadt so günstig ist und sich jeder leisten kann, hier zu leben.