: Ein anderer Handel ist möglich
Die Globalisierungskritiker wünschen der Welthandelsrunde von Hongkong das Aus – und schaden so den armen Ländern. Die WTO muss gestärkt, nicht abgeschafft werden
Es ist merkwürdig. Mit der wachsenden Verhandlungsmacht von Entwicklungs- und Schwellenländern im Rahmen der WTO häufen sich die WTO-kritischen Stellungnahmen deutscher Nichtregierungsorganisationen. Die WTO gilt als undemokratisch, für Globalisierungsgegner ist es eine Selbstverständlichkeit, das Ziel der Förderung des Welthandels abzulehnen.
Diese Sichtweise ist schwer nachzuvollziehen: Für viele Entwicklungs- und Schwellenländer hat sich das Setzen auf eine handelsorientierte Entwicklungsstrategie ausgezahlt: In Südkorea und Taiwan genießen Industriearbeiter heute einen akzeptablen Lebensstandard. Während im China Mao Tse-tungs noch viele Menschen bei Hungersnöten starben, leistet das sich zum Weltmarkt öffnende Reich der Mitte, empirisch gesehen, weltweit mit den größten Beitrag zur Bekämpfung von Armut. Demokratisch geführte und ebenfalls stark auf den Export setzende Länder wie Chile und Südafrika erarbeiten sich Spielräume, um dauerhafte sozialpolitische Fortschritte auf den Weg zu bringen. Demgegenüber sind die Abkoppelungsmodelle Albanien und Nordkorea in wirtschaftliche Katastrophen gemündet. Und das „Modell“ Kuba kann sich wirtschaftlich nur halten, weil es einen Tourismus zulässt, der in vielen seiner Ausprägungen dem thailändischen ähnelt.
Unter dem Gesichtspunkt der Verrechtlichung und der Demokratisierung internationaler Handelsbeziehungen stellt die Institution WTO eine historische Errungenschaft dar. Das Grundprinzip, dass sich alle Mitglieder im Handel gleichen Regeln unterwerfen müssen und Sanktionen riskieren, wenn sie sich nicht daran halten, ist nichts anderes als die Einhegung von wirtschaftlicher Macht.
Im Gegensatz zu Weltbank und IWF gilt bei der WTO das Prinzip „Ein Land, eine Stimme“. Während die entscheidenden Deals in der Vergangenheit zwischen der EU, den USA und Japan ausgehandelt wurden, sitzen heute auch bei den kleinsten Verhandlungsrunden die Brasilianer und die Inder gleichberechtigt mit am Tisch. Das ist ein Fortschritt und zeigt, wie sich die Verhältnisse in der Welt geändert haben.
Nun werden die WTO-Verhandlungen in Hongkong sicher nicht den großen Durchbruch bringen. Dazu sind die unterschiedlichen Interessenlagen zu komplex. Und gerade die Tatsache, dass die WTO demokratischer geworden ist und den Interessen von mehr Beteiligten Rechnung tragen muss, macht Kompromisse nicht einfacher.
Die Beiträge von NGO-Aktivisten zur Debatte um die Verhandlungen in Hongkong tragen aber wenig zu fairen Lösungen bei. So wird argumentiert, dass schrankenloser Handel aufstrebende Industrien und die Ernährungssicherung in Entwicklungsländern gefährden würde.
Nun sieht der WTO-Verhandlungsrahmen aber bereits ein „special and differential“ Treatment für arme Entwicklungsländer vor. Sie können Zölle von bis zu 150 Prozent erheben und haben damit einen Rahmen, der vielfach über das aktuell von ihnen genutzte Zollniveau hinausgeht. Immer wieder angeführte Beispiele wie der Dumpingexport von gefrorenen EU-Hähnchen nach Westafrika, der die wirtschaftliche Existenz von einheimischen Mastbetrieben gefährdet, beweisen alles Mögliche – nur nicht ein Versagen des WTO-Regimes. Dieses erlaubt in solchen Situationen Importverbote und Sonderzölle. Dass diese Möglichkeiten nicht genutzt werden, liegt nicht an der WTO, sondern am Zusammenspiel von Importeuren und korrupten Regierungen. Es ist richtig, dass die WTO in ärmeren Entwicklungsländern Zölle zulassen und so Spielräume für Industriepolitik lassen sollte. Aber gerade jene, die für soziale Gerechtigkeit eintreten, schließen konsequent die Augen davor, dass hohe Zollsätze oder auch Quotenregime in vielen Ländern der Welt und gerade in Schwarzafrika eine Quelle von Korruption und „Renten“-Einkommen sind, die nicht die Ärmsten der Armen, sondern die Reichsten der Reichen begünstigen. Mehr Handel und mehr Wettbewerb sind eben oft auch Instrumente zur Schaffung von Transparenz und zur Unterbindung von Korruption. In dieser Hinsicht könnte ein verstärkter Dialog mit Transparency International so manchem Handelskritiker neue Erkenntnisse bringen.
Sicher ist die WTO kein Instrument der Umwelt- und Sozialpolitik. Doch die Überfrachtung eines jeden einzelnen Instruments von Global Governance mit einer Vielzahl von Zielsetzungen befördert nicht unbedingt Ergebnisse. Die WTO-Verhandler haben auch dann schon einen guten Job gemacht, wenn sie eine Reihe der anstehenden Streitfragen im Handelsbereich lösen. Und es bedarf einer sehr differenzierten Debatte, wie weltweite Umweltabkommen, ILO-Normen und Handelsregime in einem fairen Interessenausgleich besser miteinander verzahnt werden können. In der Tat sind die Folgen von wachsendem Welthandel durchaus zwiespältig. Während sich viele Mitarbeiter in der boomenden Zuckerindustrie im Bundesstaat São Paulo in Brasilien ein Reihenhaus samt Kleinwagen leisten können, müssen Näherinnen im kommunistischen China vielfach unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen schuften. Deshalb ist es wichtig, dass es heute weltweit starke zivilgesellschaftliche Bewegungen gibt, die sich für soziale und ökologische Mindeststandards beispielsweise bei der Herstellung von Kleidern, Teppichen oder bei Kaffee einsetzen. Ermutigend ist, dass entsprechende Initiativen im Bereich von Handel und Industrie zunehmend Unterstützung erfahren. Schwellenländer lehnen im WTO-Rahmen diese Initiativen allerdings in der Regel als neue nichttarifäre Handelshemmnisse ab. Doch auch in dieser Frage gibt es Bewegung. Der Verband der brasilianischen Kaffeeröster hat sich dem weltweiten 4c-Kaffeekodex, der ökologische und soziale Mindeststandards für die Anpflanzung, die Ernte und die Verarbeitung von Kaffee festgelegt, unlängst angeschlossen. In den Schwellenländern wächst die Erkenntnis, dass solche Standards Qualitätsarbeit fördern, Exportfähigkeit sichern und der Kaufkraftentwicklung im eigenen Land dienen.
Vor diesem Hintergrund wäre viel erreicht, wenn die gegenwärtige WTO-Runde dem Dumping von Agrarüberschüssen der Industrieländer ein Ende bereiten und zu weiteren schrittweisen Zollsenkungen im Agrar- und Industriebereich führen würde. Ein verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement für die Durchsetzung von sozialen und ökologischen Mindeststandards bei immer mehr Produkten könnte dann zum Ziel und Ergebnis haben, dass solche in breiten Dialogprozessen vereinbarte Standards mittelfristig in weiteren Welthandelsrunden den Segen der WTO erhalten. In Anlehnung an den Attac-Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ ist festzustellen, dass dieses Ziel im Rahmen von künftigen WTO-Verhandlungen eine realistische Utopie darstellt – also möglich ist. Es gilt, die WTO zu stärken, statt ihre Errungenschaften herabzusetzen. ROGER PELTZER