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Archiv-Artikel

Tochter der Tiefe

VIOLA PROFONDA Gerardo Yañez und eine Violine von aparter Rauheit in der Philharmonie

Das Instrument verfügt über vier Saiten und liegt in der Stimmung genau eine Oktave unter der Geige, so wie das Cello eine unter der Bratsche

VON KATHARINA GRANZIN

Der Geige wird oft nachgesagt, sie sei das Instrument, das der menschlichen Stimme am ähnlichsten ist. Natürlich ist diese Behauptung unpräzise. Als Mensch wäre die Geige eindeutig eine Frau; noch genauer, ein Sopran. Die Bratsche wäre ein Alt, das Cello gäbe den Bass (und der Kontrabass wäre zu großen Teilen gar kein Mensch mehr).

Was in dieser Aufstellung allerdings fehlt, ist, ausgerechnet, der Tenor. Während ein menschliches Vokalensemble in der Regel aus vier verschiedenen Stimmlagen besteht, kommt ein Streichquartett mit nur drei verschiedenen Instrumenten aus: zwei Geigen, einer Bratsche, einem Cello. Aber muss das so sein?

Der aus Bolivien stammende Berliner Musiker Gerardo Yañez hat sich aufgemacht, diese Tradition aufzubrechen, und ein Streichinstrument entwickelt, das stimmlich genau die Lücke zwischen Bratsche und Cello schließt. „Viola Profonda“ nennt er seine Erfindung, „tiefe Geige“, und unter diesem Namen hat er sie auch patentieren lassen. Das Instrument verfügt über vier Saiten und liegt in der Stimmung genau eine Oktave unter der Geige, so wie das Cello eine Oktave unter der Bratsche liegt.

Yañez ist nicht der Erste, der sich an einer Violine in Tenorstimmung versucht. Ein verwandtes Instrument, die Tenorgeige, steht im Musikinstrumentenmuseum, nur einen Steinwurf entfernt vom Kammermusiksaal, in dem Yañez und eine Schar von Musikern aus Lateinamerika und Deutschland am Donnerstagabend das Einstiegskonzert für die Viola Profonda in Berlin gaben. Die Vorgängerinstrumente der Viola Profonda, so erfährt man auf Yañez’ Website, seien aufgrund ihrer Bauweise zu unbequem zu spielen gewesen. Die Tenorgeige etwa habe einen so langen Hals gehabt, dass sie nicht auf der Schulter liegend gespielt werden konnte, sondern wie eine Gambe auf dem Schoß gehalten wurde. (Die Gamben, die noch zu Bachs Zeiten üblich waren und heute im Rahmen der historischen Aufführungspraxis manchmal wieder verwendet werden, sind von den Violinen, die dank der freieren Haltung ein virtuoseres Spiel zulassen, völlig verdrängt worden.)

Das Instrument, mit dem der Geiger – denn wie soll man ihn sonst nennen? – Juan Gonzalez die Bühne des Kammermusiksaals betritt, ist in der Tat überraschend wenig langhalsig. Doch eine beträchtliche Größe hat es schon, sodass Gonzalez, der das netto über zwei Stunden lange Konzert fast ununterbrochen auf der Bühne steht (mit lediglich zwei kleineren Pausen, als der Pianist Gustavo La Cruz seine Soli hat), schon physisch eine enorme Leistung vollbringt.

An den zunächst seltsamen Anblick der Riesengeige auf der Schulter des Spielenden gewöhnt man sich schneller als an den Klang des Instruments. Der erste Teil des Konzerts ist ganz der lateinamerikanischen Musik gewidmet, durchaus auch in populäreren Erscheinungsformen. Das tiefe Timbre der Viola Profonda verleiht dabei so manchen Stücken, die, von einer hohen Geige dargeboten, vielleicht ins Folkloristisch-Süßliche gekippt wären, eine aparte Rauheit. Man hört das gern; doch schwierig ist es, in den unteren Lagen nicht den ungleich volleren Celloklang zu vermissen. Eine reine Hörgewohnheit? Oder liegt hier vielleicht auch einer der Gründe dafür, dass sich eine Tenorgeige bisher nicht hat etablieren können?

Schwer zu sagen, umso mehr, als sich im Laufe des Abends wenig Gelegenheit bietet, die Viola Profonda im Zusammenklang mit anderen Streichern zu hören. Als der angestrebte Höhepunkt des Konzerts, die Darbietung von Teilen aus Bachs „Kunst der Fuge“ durch das neu zusammengesetzte Streichquartett, erreicht ist, hat man bereits zwei Stunden lang Musik gehört. Die Musiker ihrerseits haben Startschwierigkeiten und sind so damit beschäftigt, die Verlaufsstränge der Stimmen passend ineinanderzuhäkeln, dass es etwas dauert, bis Musik daraus wird.

Als der Groove sich endlich eingestellt hat, ist der eingeübte Bach auch schon zu Ende. Dabei hätte es vom „Titan“ (so der Titel einer von Yañez komponierten Bach-Huldigung) durchaus mehr sein können, zumal gerade die Reform des Streichquartetts doch als Hauptmotivation für die Entwicklung der Viola Profonda herangezogen wird. Ja, natürlich müssen erst einmal Stücke geschrieben werden für das Streichquartett in seiner neuen Form.

Gerardo Yañez, der mit gutem Beispiel vorangegangen ist – zum Abschluss wird eine Bluesfuge von Yañez gespielt, die den Titel „Kotti“ trägt; denn der Komponist liebt sein Kreuzberg –, appelliert zum Schluss an alle Kollegen, für seine neue „Tochter“ tätig zu werden. Aber bis es so weit ist, hören wir beim nächsten Mal gern noch ein bisschen mehr aus der „Kunst der Fuge“.