: Der nervöse Sog vor den Hippies
LIBERALISIERUNG „Unterwegs in einem kleinen Land“, ein realistischer Roman des berühmten Science-Fiction-Autors Philip K. Dick, erstmals auf Deutsch
VON FRANK SCHÄFER
Der große Paranoiker und Science-Fiction-Innovator Philip K. Dick, der auf Acid das Genre noch einmal vom Kopf auf die Füße stellte, hat am Anfang seiner Karriere ein paar realistische Romane geschrieben, die er wohl auch wegen ihrer unkonventionellen Moral und sexuellen Libertinage in den bigotten Fifties nicht an den Verlag bringen konnte.
Man muss das nicht gar zu sehr bedauern, denn auch seine unzähligen Sci-Fi-Storys und Sci-Fi-Romane sind zumeist nur leicht camouflierte Konterfeis der zeitgenössischen kalifornischen Gesellschaft mit ihren jeweils aktuellen Problemlagen. In der Genre-Schmuddelecke war offenbar immer schon mehr möglich.
Dick hat die sozialen Nach- und Nebenwirkungen des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs und des Industrialisierungsschubs infolge des Zweiten Weltkriegs genau beschrieben: die ersten Emanzipationserfolge der Frauen, die ideelle Sinnkrise im alles verwurstenden Kapitalismus, die schleichende Liberalisierung der Gesellschaft – hier nahm Kalifornien wegen seiner prosperierenden Rüstungsindustrie tatsächlich eine Avantgardeposition ein – gegen den Widerstand der konservativen Kräfte, die weiterhin den Konventionen des 19. Jahrhunderts anhingen und diese nach dem Verfall der puritanischen Werte in Kriegszeiten zunächst zumindest an der Oberfläche erfolgreich restaurieren konnten.
„Unterwegs in einem kleinen Land“, dieser erst 1985, also postum erschienene, bereits im Jahr 1957 entstandene und jetzt erstmals übersetzte Roman, zeigt das alles nun bar jeder utopistischen Staffage. Roger ist ein kleiner Mann, stammt aus kleinen Verhältnissen, und obschon Inhaber eines gutgehenden Fernsehgeschäfts, bewegt er sich unsicher auf gesellschaftlichem Parkett. Ganz anders seine Ehefrau Virginia, eine große, stolze Ostküsten-Dame, die ihn mit ihrem New-England-Snobismus mehr und mehr einschüchtert und erzürnt. Er stürzt sich in eine Affäre, Virginia ahnt was, erwischt ihn in flagranti und bringt mit List und Tücke, wohl wissend, dass sie die bürgerliche Moral auf ihrer Seite hat, das Geschäft an sich und verhindert so auch die drohende Scheidung. Am Ende macht sich Roger auf und davon. Eine Konsequenz, die auch schon die Beat Generation aus den beengenden familiären Verhältnissen zog – und die das ideologisierte Aussteigertum der Hippies antizipiert. Insofern ist die deutsche Übersetzung des Titels mit ihrer Anspielung auf den kanonischen Text dieser Jugendbewegung gut gewählt.
Dick porträtiert mit überschaubarem Personal eine Gesellschaft im Umbruch, noch gefangen in den Konventionen der Altvorderen, aber auch schon mit einer Ahnung davon, dass es sich auch anders leben lassen müsste. Aber der Roman ist nicht nur als mentalitätsgeschichtliches Dokument von einigem Interesse. Dick zeigt sich hier bereits als versierter, seiner Mittel durchaus sicherer Romancier, der etwas Exemplarisches erzählen kann, ohne seine Figuren zu bloßen Stellvertretern der Verhältnisse zu machen. Seine Helden sind Individuen durch und durch. Und obwohl er fast ausschließlich langweilige Alltäglichkeiten aus der kalifornischen Mittelschicht zu beschreiben hat, erzeugt das Buch einen unterschwelligen nervösen Sog, so als schildere es den fiebrigen Zeitgeist nicht nur, sondern bilde ihn auch narrativ ab.
Und noch etwas Erstaunliches leistet dieser Roman, er weckt Nostalgiegefühle für eine Zeit, die man selbst gar nicht erlebt hat – aber die man natürlich aus den alten US-Serien trotzdem ganz genau zu kennen vermeint.
Vielleicht muss man doch ein wenig bedauern, dass Dicks Zeitromane damals nicht erscheinen konnten. Denn man darf sich fragen, was er hier noch alles hätte leisten können, wenn ein Teil seiner produktiven Fantasie nicht in der Ausstattung von Zukunftswelten aufgegangen wäre.
■ Philip K. Dick: „Unterwegs in einem kleinen Land“. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. Liebeskind, München 2009. 378 Seiten, 22 Euro